Poetryslam oder Die Jugend hasst lesen

Max Scherer

Er holt zwei zerknitterte Zettel aus seiner linken, vorderen Hosentasche, nimmt noch einmal einen großen Schluck aus seiner Apfelsaftschorle, geht zielstrebig die zwei Schritte zum Mikrofon, stellt dieses noch in seine richtige Höhe ein, holt zweimal tief Luft, schaut in die erwartungsvollen Augen des Publikums und beginnt.

Seine Worte sind exakt und scharf, doch voller Humor. Das Publikum hört gebannt zu, man sieht schmunzelnde Gesichter, hört Lachen und spontanes, zustimmendes Raunen. Die 250 Menschen in dem alten Gemäuer, welche bei Bier und Cola dem Poeten lauschen, sind begeistert.

So könnte man den Beginn einer Poetryslam-Veranstaltung, einem modernen literarischen Wettstreit beschreiben. (to slam – engl. »schlagen«, »zu schlagen«).

Erfunden wurde diese Form der Literatur-Lesung von dem amerikanischen Performance-Poet Marc Kelly Smith in Chicago. Er empfand die alten »eingestaubten« Lesungen mit »Wasserglas und kleinem Tisch« als langweilig und überholungsbedürftig und suchte nach neuen Wegen und Methoden, Menschen den Zugang zu der Sprache und der Literatur zu ermöglichen. Da man nur selten Menschen ohne grauen Haaransatz auf Lesungen antraf, war es ein Anliegen von Smith, vor allem auch jungen Menschen die Freude an Sprache und Literatur nahezubringen. Denn die Jugendlichen, die lasen, waren oft die, die auch in ihrer Freizeit in »Mittelalter-Klamotten« herumliefen und sich in Tolkins Fantasiewelten flüchteten, und sie waren eine Minderheit unter den Jugendlichen. 1986 initiierte Marc Kelly Smith den sogenannten »Uptown Poetry Slam« in Chicago im »Green Mill Jazz Club« an der Broadway Avenue. Bis heute findet hier jeden Sonntag das traditionelle »Slammen« statt und erfreut sich wie von Beginn eines großen Publikums.

Verloren in der Heide oder alles ist erlaubt

 

Wenn man ihn sich so anschaut, wie er da vorne steht: Ein in Alltagskleidung gepackter, unauffälliger Otto Normalverbraucher, doch dann diese Texte und dieses Gefühl für die Sprache. Er zieht das Publikum in seine verwinkelten Geschichten, um sie dann ganz allein auf irgendeiner verlassenen Heide zu vergessen und ganz weit weg davon wieder einzusetzen. Kurz ist man verwirrt und sucht den Zusammenhang, doch schon nach zwei Sätzen passt die verlassene Heide und man selbst als verloren gegangener Zuhörer wieder genau in die neue Landschaft.

Die Rahmenbedingungen eines Slams bilden ein Publikum und der Slammer. Oft ist das Publikum im Studentenalter, doch sieht man nun auch immer häufiger ältere Menschen aus der Generation meiner Eltern. Die meisten Poetryslam-Veranstaltungen finden in kleineren Bars, Pubs und Lokalen statt. Das Publikum sitzt an Tischen und wird oft noch bis kurz vor Beginn mit Getränken und warmen Speisen bedient. Man sitzt gemütlich zusammen und freut sich auf unbekannte Slammer und ihre neuen Texte, aber auch auf alte Gesichter mit ihren bekannten Klassikern.

Er baut mit vielen, kurzen Sätzen eine Situation auf. Mit langen, verworrenen Schachtelsätzen beschreibt er genau die einzelnen Personen und pickt sich deren Wesenszüge heraus. Kleinste Details, genauestens beobachtet.

Und mancher im Publikum entdeckt sich vielleicht persönlich in einer Beschreibung wieder oder erkennt einen Wesenszug von jemand anderem, oft gezeigt durch ein kleines Schmunzeln der Erkennenden.

In einem vorgegeben Zeitraum von etwa fünf bis sechs Minuten darf der Slammer nun seine selbst geschriebenen Texte vortragen. Oft wird fälschlicherweise angenommen, dass die Texte erst »live« auf der Bühne entstehen, doch sind sie eigentlich immer daheim vorbereitet und geschrieben worden. Erlaubt ist alles, was man mit der Sprache machen kann: Manche reimen ihre Texte, andere flüstern oder schreien. Doch darf man auf keine Verkleidung zurückgreifen, auch Theaterszenen sind nicht erwünscht, denn dafür gibt es andere Plattformen, wie z.B. das Improvisationstheater. Oft sind es sehr unscheinbar wirkende Personen, die ohne jede Starallüren einem interessierten und aufgeschlossenen Publikum ihre Texte vortragen. Und nach dem Vortrag kommt die Bewertung: Eine Jury aus fünf Menschen, die aus dem Publikum ausgelost werden, bewertet die vorangegangenen Texte in der Skala von 1 bis 10. »Eins für ein Gedicht, das nie hätte geschrieben werden dürfen, zehn für ein Gedicht, das einen spontanen kollektiven Orgasmus im Raum auslöst.« (Bob Holman)

In Amerika werden Poetryslam-Wettkämpfe noch immer oft durch eine solche Jury bewertet, doch ist es heute im deutschsprachigen Raum eher üblich, dass das gesamte Publikum durch Klatschen, Schreien und Rufen den Sieger bewertet. Nach 7 Minuten weltlicher Zeit, doch gefühlten 2 Minuten, steckt er die zwei zerknitterten Zettel wieder ein, bedankt sich und lächelt. Und das Publikum dankt ihm mit lautem Klatschen für die letzten 7 Minuten.

Dabei sein ist alles

 

Der Gewinner bekommt oft einen Sachpreis, bestehend aus Büchern, CDs oder Gutscheinen. Doch eigentlich kommen alle unter dem olympischen Motto »Dabei sein ist alles« zusammen und freuen sich am Vortragen der eigenen und dem Zuhören der fremden Texte. Nach vielen Slams gehen die Autoren und einige interessierte Zuhörer meist noch ein Bier trinken. Es bilden sich oft kleine Diskussionsrunden um die verschiedenen Vorleser und man tauscht sich über die Texte aus und debattiert über die Welt und das Sein.

Als der Literaturaktivist Bob Holman 1988 Chicago besuchte und die neue Vortragungsart entdeckte, war er so begeistert, dass er nach seiner Rückkehr in seine Heimatstadt New York einen Poetry Slam Abend im »Nuyorican Poets Cafe« veranstaltete. Parallel dazu verschaffte er dem jungen literarischen Wettkampfstil auch eine Plattform im amerikanischen Fernsehsender MTV. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das neue Modell über Nordamerika und die ganze Welt.

Im deutschsprachigen Raum gibt es heute jährliche nationale und internationale Meisterschaften in ausverkauften Hallen. Zu empfehlen sind auch die sogenannten »Lesebühnen«. Hier treten Autoren ohne den Wettkampf-Charakter eines Poetryslam an. Oft haben die Texte auch ein höheres Niveau, da die Autoren schon lange schreiben und in einem festen Zusammenschluss verankert sind. Lesebühnen wie Poetryslam-Wettkämpfe gibt es in fast jeder größeren Stadt in regelmäßigen Abständen. Häufig werden sie in der Tageszeitung angekündigt. Oder googlen Sie einfach mal danach. Sie werden überrascht sein, wie viele Veranstaltungen es in ihrer Umgebung gibt.

Auch immer mehr Lehrer greifen heute auf das Genre »Poetry-Slam« zurück, um ihren Schülern wieder Freude an der Sprache und an der Literatur zu vermitteln. Einige Poetryslammer besuchen auch Schulen und bieten »creative writing«-Kurse an, mit welchen sie versuchen, den Schülern ein bisschen von ihrer Leidenschaft für das Schreiben zu vermitteln. Vielleicht kann dies in Zukunft etwas an der Tatsache verändern, dass heute fast jeder zweite Schüler im Internet im Schüler-VZ nach seinen Lieblingsbüchern befragt »Was ist das? Ich hasse lesen!« angibt.