Politische Bildung auf Augenhöhe

Erziehungskunst | Wir haben uns hier gerade vor dem niedersächsischen Landtag getroffen. Was haben Sie dort gemacht?

Tonio Oeftering | In Niedersachsen soll die Landeszentrale für politische Bildung wieder eingerichtet werden. Der Antrag dazu ist von allen Fraktionen unterstützt worden. Es soll dieses Jahr noch anlaufen. Ich habe mit einem Abgeordneten darüber gesprochen, wie man das von der Wissenschaft aus unterstützen kann, wie Kontakte geknüpft und die Kooperationen gefestigt werden können.

EK | In welchen Bereichen der politischen Bildung sind Sie tätig?

TO | Zum einen in der Lehre, was ich gerne mache, weil ich gerne unterrichte. Ich schreibe gerne, ich forsche gerne, aber wenn ich das Gefühl habe, ich habe ein gutes Seminar gemacht und da hat jemand etwas mitgenommen, dann befriedigt mich das am meisten. Die Mehrzahl meiner Studierenden strebt das Lehramt an.

In der Forschung habe ich Schwerpunkte in der Menschenrechtsbildung. Das Thema liegt mir am Herzen, da bin ich an einigen Sammelbänden beteiligt. Besonders beschäftigt mich das Thema »Musik und Politik«: Die Idee ist, die Jugend­lichen über einen lebensweltbezogenen Ansatz auf die Politik aufmerksam zu machen, zum Beispiel, indem man über politische Lieder versucht, politische Fragestellungen zu entwickeln. Das ist ein hochinteressantes Projekt, weil man merkt, dass viel Musik, die konsumiert wird, sehr politisch ist, ohne dass die Jugendlichen das bewusst wahrnehmen. Das ist teils auch denjenigen, die das zur Darstellung bringen, nicht bewusst. Wenn beispielsweise die diversen Girlie-Popbands Bilder von Geschlechterrollen oder Konsumgewohnheiten transportieren: Wie muss man aussehen, was muss man haben, wie sich geben? Ein anderes Beispiel wäre Hip-Hop, da steckt soviel Machokultur drin, die von Jugendlichen aufgenommen wird: Der starke Gangster mit seiner Braut, die ihn untertänig anlächelt.

EK | Was ist der Ansatz der politischen Wissenschaft und speziell der Politikdidaktik?

TO | Politische Bildung bedeutet für mich, wenn es um Schule geht, Jugendliche an die Welt heranzuführen, zum politischen Denken anzuregen. Dass man ein Bewusstsein dafür entwickelt, Teil der Welt oder der Gemeinschaft zu sein und einen Teil Verantwortung trägt für ihren Fortbestand – das ist ja keine Selbstverständlichkeit mehr. Politische Bildung hat die Aufgabe, zu verhindern, dass wir uns in der Massengesellschaft verlieren. Wir müssen weiter wirklich handeln können und nicht kontaktlos als Individuum vereinzeln.

EK | Vor welcher Aufgabe steht die Schule heute – aus der Perspektive eines Politikdidaktikers?

TO | Ich sehe uns da in einem Spannungsverhältnis: Einerseits gibt es den Beutelbacher Konsens: Politikunterricht darf nicht überwältigen, Kontroverses muss kontrovers dargestellt werden und die Lernenden sollen in die Lage versetzt werden, ihre eigenen Interessen zu entwicklen und durchzusetzen – das ist die eine Seite. Die andere ist: Ich sehe schon, gerade in Anbetracht der Weltlage, dass es Dinge gibt, die ich nicht neutral vermitteln kann, die sind nicht verhandelbar: zum Beispiel Nachhaltigkeit, ja oder nein? Das könnt ihr so tun, wie ihr Lust drauf habt. – Ich brauche ein gefestigtes Fundament in mir, zum Beispiel beim Thema Menschenrechte. Und das ist dann die Herausforderung, dass man das dennoch nicht doktrinär vermitteln kann, sondern dass man das diskursiv erarbeiten muss. Es ist nicht erfolgsversprechend, dass ich in die Klasse gehe und sage: »Hier sind die Menschenrechte, lest euch das mal durch und nun achtet darauf.« Das bleibt ein rein kognitiver Vorgang, da kann einer eine hervorragende Arbeit darüber schreiben – und draußen auf dem Schulhof verkloppt er einen. Es kommt eben zuletzt auf ein konkretes Verhalten an und dazu reicht es nicht, Wissen zu vermitteln. Natürlich, man braucht Wissen, die Wissensunterschiede zwischen Lehrenden und Lernenden sind aber in diesem Bereich graduelle, keine absoluten.

Die Schülerinnen und Schüler bringen hier immer ihre eigenen Erfahrungen und Vorstellungen mit, zum Beispiel zu Gerechtigkeit: Wer darf bestimmen? – Ihre Wahrheit ist ernst zu nehmen. Es geht um eine politische Bildung in einem ernst gemeinten Gespräch, auf Augenhöhe. Das bedeutet nicht, dass wir Erwachsenen nicht die Verantwortung zu übernehmen haben für die von uns geschaffene Welt.

EK | Was können die Schule oder speziell das Fach Sozialkunde leisten?

TO | Eine Weltverbindung so dicht wie möglich zu fassen. Etwa: Wo kommt eure Kleidung eigentlich her? Warum kannst du dir für 4,50 Euro ein T-Shirt kaufen? Das ist die Herausforderung, dass man versucht, Brücken zu bauen über den eigenen Lebensweltbezug, dass man das eigene Leben in Beziehung bringt mit der Welt da draußen – und die überhaupt erstmal wahrzunehmen. Politik besteht nach Hannah Arendt im Miteinandersprechen und Miteinanderhandeln – und das ist für mich schon das didaktische Programm. Das Wichtigste im Politikunterricht ist, dass diskutiert wird, dass unterschiedliche Positionen deutlich werden, dass Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzt werden, dass sie auch ermutigt werden, ihren eigenen Standpunkt zu finden und den auch in der gegebenen kleinen Öffentlichkeit der Klasse zu vertreten.

EK | Was kann denn das Üben von politischem Handeln in der Schule heißen?

TO | Simulatives Handeln. Das hat in der Schule eine große Berechtigung, weil man einen geschützten Raum modellieren kann, der nicht sofort zu viel Verantwortung aufbürdet, in dem man aber Prozesse selbst erleben kann, die Realitätsgehalt haben. Da gibt es Methoden wie die Inselspiele oder Dorfgründungsszenarien: Wie im »Herr der Fliegen«, von Null angefangen, gestrandet auf der einsamen Insel – organisiert euer Zusammenleben! Oder weiter entwickelt im Dorf: Stellt euch vor, eure Klasse kauft ein kleines verlassenes Dorf in Südfrankreich. Da gibt es eine Werkstatt, ein Schulgebäude, eine Kirche, unterschiedlich große Wohnräume, unterschiedlich viel Taschengeld – es sind die Konfliktlinien schon vorgezeichnet. Und nun die Projektaufgabe: Gestaltet euer Gemeinwesen!

Es gibt ja aber natürlich auch reelle Dinge, wie den Schulrat oder den Klassenrat, der eben selbst schon politisches Handeln sein kann – wenn es richtig gemacht wird.

EK | Was treibt Sie am meisten an?

TO | Wenn ich jeden Tag dem Kind ins Gesicht schaue, dem ich die Welt einmal hinterlasse. Das erzeugt ein persönliches Dringlichkeitsgefühl. Aber davor auch: Mir war es nie egal, wie es auf der Welt aussieht. Bei mir selbst ist da viel über politische Musik transportiert worden. Eine konkrete Erfahrung in einem Unternehmen in der Musikbranche, in dem ich gearbeitet habe, kam dazu. Da konnte ich in der Krise des Unternehmens selbst erleben, was Gegensätze von Kapital und Arbeit real bedeuten.

Innerhalb von drei Jahren wurden da aus 120 Mitarbeitern zwölf. Das politisierte mich. Ich habe gemerkt, wie wir gesellschaftlichen Kräften ausgesetzt sind – aber auch, dass ich selber handelnd eingreifen kann.

EK | Welche Vorbilder haben Sie?

TO | Als Politiker hat mich Willy Brandt angesprochen. Er hat eine sehr interessante Biographie, vergleichbar mit Hannah Arendt: Nationalsozialismus, aus dem Land zu gehen – oder Claude Lanzmann, der eine Szene in seinem Leben beschreibt, wie er als 18-Jähriger seinem Vater gesteht, dass er im Widerstand gegen die Nazis in Frankreich kämpft – und sein Vater fängt an zu weinen und gesteht ihm, dass er auch im Widerstand ist – und sie wussten nicht voneinander. Wenn man sich anschaut, was damals einen 18-Jährigen beschäftigt hat, was der erlebt, durchgemacht hat – wie weit weg ist das von dem, wie 18-Jährige heutzutage leben.

Dann auch Nelson Mandela. – Also alles Leute, die Unvorstellbares erdulden mussten, ohne dabei zynisch geworden zu sein, ohne sich der Gewalt verschrieben zu haben und ohne sich, aus Angst oder warum auch immer, von der Welt abgewandt zu haben.

EK | Haben Ihre Erfahrungen als Waldorfschüler etwas mit Ihrem Berufsweg zu tun?

TO | Ich glaube, wenig. An meiner Schule machte ich weder die Erfahrung eines guten Politikunterrichts noch eines schlechten – sondern einfach: gar keinen.

EK | Waldorfschulabsolventen bis 1990 äußern in der Regel, keinen Unterricht in politischer Bildung gehabt zu haben. Auf der anderen Seite zeigt sich bei ihnen ein überdurchschnitt­liches Interesse und eine Bereitschaft, zu gesellschaftlichem Handeln und politischem Engagement. Die bewusste, kognitive Bildung scheint hier im Ergebnis nicht alles gewesen zu sein. Wie haben Sie das selber erlebt?

TO | Ich habe Musik gemacht, Heavy Metal, die Zeit im Probenraum verbracht, gesellschaftskritische Texte geschrieben, aber das hatte mit der Schule gar nichts zu tun – das war auch gar nichts, was ich in die Schule irgendwie reintragen durfte, das war ein absolutes No Go. Die Jeansjacke mit den Aufnähern war immer im Schulranzen, bis ich wieder an der Haltestelle stand. Nein, ich sehe keine direkte Verbindung. Ich finde es aber enorm wichtig, was in Bezug auf die Sozialkunde in der Waldorfschule nun gerade passiert: das Bemühen, dieses Fach zu greifen. Die Waldorfschule hat als freie Schule da auch die Chance, etwas zu bieten, weil sie nicht den systemischen Zwängen voll ausgesetzt ist: Dass nur abprüfbares Wissen zählen soll, das ist von meinem Blickwinkel auf die politische Bildung aus eine unsinnige Sackgasse.

Die Waldorfschule hat da vielleicht die Chance, mehr auf das zu schauen, worauf es im Kern ankommt: zu Engagement für die Gemeinschaft und die Welt zu kommen, handlungsfähig zu werden.

EK | Gab es Dinge in der Schule, die Ihnen geholfen haben? Oder andere, auf die Sie hätten verzichten können?

TO | Ich war extrem darauf angewiesen, eine stabile Klassengemeinschaft um mich herum zu haben, getragen zu werden von einem Klassenlehrer. Für mich war das ein Segen, dass ich einfach immer mitgenommen wurde. Die Bedeutung eines Umfeldes und einer Gemeinschaft wird da wieder deutlich. Etwas, was mich vorbereitet hat, war auch das viele »öffentliche« Sprechen vor anderen Menschen.

Und worauf ich hätte verzichten können? – Ich glaube, ich bin mit allem versöhnt. Nach der Schule wollte ich nie wieder ein Buch lesen, nie wieder lernen – was aber gar nicht heißt, dass ich die Schule gehasst hätte. Ich habe mich da immer wohl gefühlt.

Die Fragen stellte Till Ungefug

Kontakt: tonio.oeftering@leuphana.de

Literatur: T. Oeftering: Das Politische als Kern der Politischen Bildung. Hannah Arendts Beitrag zur Didaktik des politischen Unterrichts, Schwalbach am Taunus 2013.