Probleme mit der Bodenhaftung

Ulrich Kling

Das war nicht immer so: Mit welcher Freude ließen sich die Kinder in der ersten Klasse noch anregen, das morgendliche Singen und Sprechen von Versen mit munteren Bewegungen zu begleiten! Ihre Bewegungsfreude war unübersehbar und verlangte danach, sich in gemeinsam gestalteten Darstellungen und im Spiel Ausdruck zu verschaffen. Die Kinder schlossen sich spontan an: Die Füße gingen schwer und schleppend, wie bei einem Riesen oder lustig im Trab, wie bei einem ungestümen Pferdchen; Hand- und Armbewegungen trugen das ihre dazu bei. Eine die geschmeidigen Bewegungsabläufe hemmende Selbstbeobachtung gab es in diesem Alter noch nicht.

Ganz anders nun in der siebten Klasse. Mittlerweile deutlich gewachsen, sind die Schüler behäbiger geworden. Zwar singen und rezitieren sie – wenn auch manchmal etwas verhaltener – immer noch gerne, doch werden aufsehenerregende Gebärden lieber vermieden. Überhaupt haben die Bewegungen der Heranwachsenden nun einen anderen Charakter. Man merkt ihnen an, dass die Erdenschwere sie mittlerweile stärker ergreift. Nicht wenige Schüler lehnen schon während des Morgenspruchs am Tisch, der sich hinter ihnen befindet, oder stützen sich auf dem eigenen ab. Die wenigen Gesten, die sie sich beim Sprechen von Balladen abringen lassen, sind zurückhaltend. Es ist ihnen oft unangenehm, einer Empfindung mittels einer öffnenden Gebärde Ausdruck zu verleihen und somit seelisch in Erscheinung zu treten.

Ein Marionettenspiel kommt da ganz gelegen. Ich kann die Puppe stellvertretend für mich in Erscheinung treten lassen.

Ein Geschenk für die »Kleinen«

An unserer Schule in Backnang gehört es seit einigen Jahren zum Programm einer siebten Klasse, ein Marionettenspiel auf die Beine zu stellen. Unsere Siebtklässler übernehmen die Patenschaft für die ganz Kleinen in der neuen ersten Klasse. Gäbe es da ein schöneres Willkommensgeschenk als ein Märchen, das die »Großen« mit selbst angefertigten Marionetten für ihre Patenkinder aufführen?

Die Vorbereitungen beginnen bereits Mitte der sechsten Klasse. Eine Geschichte muss gefunden werden. Dieses Mal fiel die Wahl auf »Zwerg Nase« von Wilhelm Hauff, ein Märchen, das das Schicksal des hübschen kleinen Jakob beschreibt. Als Sohn einer Marktfrau und eines Schusters geht er der Mutter täglich zur Hand, bis eines Tages ein altes Weib erscheint. Obwohl es wegen ihres ungebührlichen Verhaltens zum Streit gekommen war, beauftragt die Mutter Jakob damit, der Alten die Einkäufe nach Hause zu tragen. Zum Dank und zur Stärkung, wie sie sagt, kocht sie ihm dort ein Süppchen, das er auslöffelt. Danach schläft er ein und träumt, er müsse sieben Jahre verschiedene Dienste in Haus und Küche der alten Frau versehen. Als er aufwacht, macht er sich auf den Heimweg. Nachdem ihn zu seinem großen Schrecken niemand mehr erkennt, auch Vater und Mutter nicht, muss er feststellen, dass die Alte ihn in einen hässlichen Zwerg mit einer langen Nase verwandelt hat ...

Nachdem das Stück gefunden war, konnte es ans Werk gehen. Jeder Schüler wählte eine Figur aus dem Märchen, mit der er sich von nun an beschäftigte. Im Handarbeitsunterricht entstanden innerhalb eines halben Jahres die Marionetten zu dem Märchen. Jakob, der Hauptdarsteller, musste sogar in drei verschiedenen Gestalten in Erscheinung treten: als der kleine hübsche Sohn seiner Eltern, als verunstalteter Zwerg mit einer ungeheuren Nase und als stattlicher junger Mann, der in Erscheinung tritt, nachdem Jakob von dem Fluch der Hexe erlöst worden ist.

Eine Klassenfahrt zu Beginn des Jahres bescherte den Schülern neben all den Erlebnissen noch genügend Zeit, um sich mit dem Stück zu beschäftigen. Durch den intensiven gemeinsamen Umgang mit dem Text hatten rasch viele Schüler nicht nur ihre eigenen Zeilen, sondern auch die einiger Klassenkameraden parat – eine gute Voraussetzung für gegenseitiges Soufflieren.

Ein etwas zu klein geratener Freund

Inzwischen wurden auch die noch fehlenden Marionetten fertiggestellt und verschiedene Kulissen angefertigt. Die Übung mit den etwa 30 Zentimeter hohen Figuren konnte beginnen, zunächst mit einer längeren Phase des Ausprobierens. Kann ich durch das Spielkreuz und die Fäden hindurch den Schwerpunkt des kleinen Kerls da vor mir erspüren? Eine Marionette möchte aufgerichtet und in die Balance zwischen Schwere und Leichte gebracht werden. Je mehr ich aus der Mitte der Figur heraus agiere, umso stabiler wird der Kontakt zum Boden und die Bewegungen werden fließender. »Du schwebst!«, war die häufigste Korrektur, die die Schüler sich gegenseitig zuriefen, wenn eine Marionette mal wieder den Boden unter den Füßen verloren hatte.

Während der Proben wurde das Verhältnis zur Marionette immer inniger. Wie einen etwas zu klein geratenen Freund ließen die Spieler ihre Figuren vor der Kulisse aufmarschieren. Die Bewegungen mit dem sprachlichen Ausdruck einhergehen zu lassen oder in den Gebärden sogar vorzugreifen, stellte anfangs eine große Anforderung dar, doch wurde die Verbindung zur Figur mit der Zeit intensiver und das Spiel dadurch immer freier.

Dabei mussten die Akteure stets den Überblick über den gesamten Handlungsverlauf behalten.

Eine Figur, die am äußersten Bühnenrand auftrat und einen weiten Weg an anderen Figuren vorbei zurückzulegen hatte, wurde behutsam von Spieler zu Spieler weitergereicht. Außerdem musste nach ihrem Auftritt jede Marionette wieder so aufmerksam verwahrt werden, dass sich die Fäden nicht verwirrten und ihrem nächsten Auftritt nichts im Wege stand. Jeder Schüler hatte zudem noch Aufgaben entweder als Kulissenschieber, Beleuchter oder Musikant, denn die Umbaupausen wurden mit Musik überbrückt. Alles in allem eine große logistische Herausforderung, die die absolute Präsenz jedes Einzelnen und gleichzeitig eine aufeinander abgestimmte, gemeinschaftliche Vorgehensweise verlangte.

Nach einer intensiven Probenzeit, die den Schülern und den beteiligten Lehrern vielseitige Erfahrungen bescherte, fanden sechs Aufführungen statt, sowohl vor Mitschülern als auch vor einem öffentlichen Publikum am Martinimarkt. Nicht nur der Applaus, sondern auch die vielen hochachtungsvollen Kommentare nach den Veranstaltungen gaben den Schülern das Gefühl: »Es hat sich gelohnt, wir haben miteinander etwas geschaffen, was vielen Menschen Freude bereitet hat.«

In einem Jahr werden die Schüler dann mit dem Achtklassspiel selber in den Vordergrund treten. Bestimmt werden sie sich dann an einiges erinnern, was zu einer gelungenen Aufführung beiträgt, denn ihre Marionetten haben es ihnen ja vorgemacht.

Ach ja – am behutsamsten und mit größter Umsicht spielten die Siebtklässler tatsächlich für ihre Patenkinder aus der ersten Klasse. Für die Kleinen wurde »Zwerg Nase« lebendig. Ein wirkliches Geschenk!

Zum Autor: Ulrich Kling war als Klassen- und Musiklehrer an der Inkanyezi-Waldorfschool in Johannesburg/Südafrika und an der Freien Waldorfschule Tübingen tätig. Heute unterrichtet er an der Freien Waldorfschule in Backnang.