Pubertät: Die größte Krise des Lebens

Oscar Scholz

Die Pubertät ist die Zeit, in der die Erziehungsberater zu ihren eigenen Büchern greifen und verzweifelt nachschlagen, wie sie mit ihrer ausgeflippten Tochter umgehen sollen. Eine Mutter schilderte mir, wie es ihrer pubertierenden Tochter regelmäßig gelang, die gesamte Familie, Mutter, Vater, Bruder, stundenlang mit ihren nicht zu bewältigenden Hausaufgaben auf Trab zu halten, bis am Ende alle mit den Nerven am Ende waren. Allerdings erzählte mir in der gleichen Zeit ein Vater von seiner Tochter, dass es noch nie so schön gewesen sei in der Familie, man könne schon richtig erwachsene Gesprächen führen beim Abendbrottisch und es sei so harmonisch … Da dachte ich nur: Hoffentlich begegnen sich diese Mutter und dieser Vater zur Zeit nicht! Es ist in der Tat unglaublich schwer, sich nicht in die Emotionalität hineinziehen zu lassen. Es gelingt einem immer wieder nicht, weil der Jugendliche unvorbereitet – im Bild gesprochen – aus dem Hinterhalt angreift. Die andere Gefahr ist, dass man sich zu wenig mit dem Jugendlichen identifiziert – also zu distanziert ist, ihn nicht ernst nimmt. Das verstärkt die Emotionalität, die Aggressivität, das Einsamkeitserlebnis. Es wirkt nur provozierend, wenn man sagt: »Ja, dein Verhalten ist typisch pubertierend, das legt sich schon wieder, du bist nicht zurechnungsfähig, deine Hormone spielen verrückt.« Man sollte das nicht einmal denken. Die Pubertät wird von Entwicklungspsychologen als die größte Krise in der menschlichen Biographie bezeichnet, die größte Erschütterung des Selbstbewusstseins, die größte Unsicherheit. Warum ist das so? Die Gehirnforschung hat inzwischen herausgefunden, dass sich das Gehin in dieser Zeit vollständig umstrukturiert. Alte Strukturen lösen sich auf und neue werden gebildet. Das bedeutet für den Jugendlichen eine Zeit der Orientierungslosigkeit. Die Welt wird anders wahrgenommen. Es ist ja manchmal unfassbar und kaum auszuhalten, wie verpeilt ein Pubertierender sein kann. Aber man muss das im Zusammenhang mit dem genannten Umbau sehen. Das unaufgeräumte Zimmer wird nicht als unordentlich wahrgenommen. Dem liegt nicht unbedingt Provokation zugrunde, sondern Physiologie!

Der Mensch wird mehrfach geboren

Diese grundlegenden körperlichen Veränderungen, die Umgestaltung des Leibes, die Geschlechtsreife, die Neustrukturierung des Gehirns und die starken Veränderungen im Empfinden und Verhalten des Jugendlichen stehen in einem größeren Zusammenhang. Schon zwölf Jahre vor Gründung der Waldorfschule hat Rudolf Steiner geschildert, dass der Mensch ein vielgliedriges Wesen ist, verschiedene Wesensglieder hat, die, wenn er geboren wird, noch längst nicht alle entwickelt und entfaltet sind. Wenn der Mensch physisch geboren wird, sind diese weiteren, höheren Wesensglieder noch verhüllt, so wie sich das Kind in der Embryonalzeit in der Hülle der Mutter befindet. Sie entwickeln sich und es gehen Wirkungen von ihnen aus, sie lösen sich aber erst nach einer langen Entwicklungszeit aus ihren Hüllen. Und diesen Lösungsprozess nennt Steiner »Geburt«. Er spricht von den drei Geburten des Menschen, wobei das um weitere Geburten ergänzt werden müsste, wenn man die weitere Entwicklung des Erwachsenen in Betracht zieht.

Diese »Geburt der Wesensglieder« ist als Kräfte-Metamorphose zu verstehen. Der Grundgedanke dabei ist, dass das Schulkind mit den selben Kräften lernt, durch die es gewachsen ist. Die Lernkräfte sind verwandelte Wachstumskräfte. Die Kräfte, die seinen Leib aufgebaut und seine Organe gebildet haben, kommen zu einem bestimmten Zeitpunkt mit dieser Tätigkeit zum Abschluss und werden frei, andere Aufgaben zu übernehmen: Sie werden zu Lernkräften, zu Gedächtniskräften. Diese Kräfte nennt Rudolf Steiner Bildekräfte oder Lebenskräfte und da sie eine Einheit bilden, spricht er von einem Leib, einem Bildekräfteleib oder Lebensleib. Die zweite Geburt des Menschen ist also die Geburt des Lebensleibes.

Und in gleicher Weise muss man sich nun vorstellen, dass sich ein weiteres Wesensglied über eine längere Zeit im Verborgenen weiterentwickelt und erst mit der Pubertät geboren, aus seinen Hüllen entlassen wird. Dieses Wesensglied nennt Rudolf Steiner »Empfindungsleib« – gemeint ist das persönliche Seelenleben. Die Pubertät ist ein Geburtsvorgang der Seele, die Geburt des persönlich werdenden Denkens, Fühlens und Wollens. Das bedeutet, dass sich neben den vielfältigen körperlichen Reifungsprozessen das Gefühlsleben grundsätzlich verändert. Die Gefühle werden nun persönlich, innerlich erlebt. Trauer und Zuneigung bekommen einen ganz anderen Charakter. Vorstellungen und Ideen können nun mit innerer Begeisterung erfasst und zu Idealen werden, ein Idealismus wird entwickelt, der seelisch befeuert.

Warum ist das ein so dramatisches Geschehen, warum wird der Jugendliche von seinem Gefühlsleben wie von einem Sturm gepackt? – Weil dem Seelenleben noch die Führung durch ein selbstständiges Ich fehlt. Das Ich wird erst sehr viel später geboren und kann dann als ordnende Kraft auf das Seelenleben wirken. Und bis dahin muss der Erwachsene dem Jugendlichen diese ordnende Kraft zur Verfügung stellen. Wir haben also beim Kind und beim Jugendlichen die gesamte Schulzeit über ein Wesen vor uns, das sich erst nach und nach enthüllt, dessen Glieder zunächst im Verborgenen liegen und nach und nach geboren werden. Und was braucht ein neugeborenes Wesen? Es braucht Schutz und Pflege. Die Hülle, die es verloren hat, muss zunächst von der Umgebung ersetzt werden. Das gilt gleichermaßen für den neugeborenen Lebensleib und Empfindungsleib.

Das muss die Grundgesinnung des Erwachsenen gegenüber dem Jugendlichen sein: Wir haben es bei ihm mit einem Neugeborenen zu tun, der Schutz und Hilfe braucht. Die neugeborene Persönlichkeit muss sich aufrichten und laufen lernen, neu sprechen und denken lernen. Damit hängt das »Rumhängen«, das Verkümmern der Sprache bis zum Lallen oder das gänzliche Verstummen in der Zeit der Pubertät zusammen – ein Vorgang mit vielen Fehlversuchen und Rückschlägen. Der Pubertierende braucht die gleiche Rücksicht, Anteilnahme, Ermunterung wie das kleine Kind, das laufen lernt. Die neugeborene Seele ist ebenso zart und empfindlich und ungelenk wie der neugeborene physische Leib und die Berührung durch einen Erwachsenen kann zu einem heftigen Zusammenzucken führen.

Kriemhild im Turm

Für die Oberstufenzeit gibt es von Rudolf Steiner einige Leitgedanken, an denen man sich orientieren kann: »Weltinteresse entwickeln«, »die Urteilskraft entwickeln«, »auf die latenten Fragen des Jugendlichen eingehen«. Das sind Fragen, derer er sich zunächst nicht bewusst ist, sie schlummern unter der Oberfläche. Eine Möglichkeit, darauf einzugehen, ist, dass der Jugendliche der eigenen Problematik im Bild begegnet. In der zehnten Klasse wird im Deutschunterricht das Nibelungenlied behandelt. Eine der Hauptfiguren ist Kriemhild, eine Königstochter, die schönste Frau weit und breit, die einen unheilvollen Zukunftstraum hat, der ihr gedeutet wird, und die daraufhin beschließt, sich niemals zu verlieben, was ihr allerdings nicht gelingt. Sie verbirgt sich in einem Turm, schaut die Welt aus dieser Distanz durch das Fenster an. Sie meidet jede Begegnung mit der Welt, schließt sich ganz in sich ab, aus Angst, verletzt zu werden. Sogar als Siegfried an ihren Hof kommt und sie sich eigentlich schon in ihn verliebt, als sie ihn durch das Tor reiten sieht, bleibt sie noch ein Jahr in ihrem Turm und beobachtet ihn aus der Ferne. Was ist das für eine Geste? Angst, sich mit der Welt zu verbinden, Angst, erwachsen zu werden, nicht die eigene Kammer verlassen, sich nicht verletzbar machen, über alles selbst die Kontrolle behalten – das ist eine ganz bekannte Sehnsucht in dieser Jugendzeit, die sich bis zur Magersucht steigern kann.

Und dann treffen im Nibelungenlied verschiedene Extreme unversöhnlich aufeinander, es endet alles in der Katastrophe. Etwas verkürzt könnte man sagen: Das Alte und das Neue treffen aufeinander und können nicht vermittelt werden. Oder auch: die Innenwelt, was aus mir selbst herauskommt, und die Außenwelt, das, was auf mich zukommt. Der Konflikt dieser beiden ist genau die Grundsituation der zehnten Klasse: der Konflikt zwischen Innen und Außen, und der wird nicht gelöst.

Parzival und die Geburt des Ich

In der elften Klasse ist die Situation ganz anders. Es wird nicht mehr die Spannung zwischen innen und außen erlebt und erlitten, das hat sich ziemlich beruhigt, sondern nun wird der Innenraum wirklich erfüllt. Der Elftklässler ist besonnener, nachdenklicher und man merkt schon sehr stark etwas ganz Eigenes. Die Individualität kommt langsam durch. Und so sind die Hauptmotive für den Deutsch- und Geschichtsunterricht in dieser Klassenstufe Verinnerlichung oder auch Innenraumbildung und Entwicklung. In der Geschichte geht es um die Zeit vom Ende der Antike bis zur beginnenden Neuzeit. Also um das Mittelalter mit seinen Voraussetzungen und seinem Ende. Es ist eine Zeit größter Entwicklung und zugleich starker Verinnerlichung. Wenn man von dem Erbe der Antike ausgeht, so ist das unter anderem die griechische Philosophie. Und da bietet es sich an, von Sokrates’ sogenanntem Daimonion zu sprechen, einer inneren Stimme, der er folgt, moderner gedacht wohl das Gewissen.

Und bei Platon kommt das Höhlengleichnis. Der Mensch befindet sich eigentlich in einer Höhle und sieht nur die Schatten der Dinge. Zur Erfahrung der eigentlichen Wirklichkeit muss er sich auf einem mühsamen Weg erst erheben. Und das Motiv der Höhle taucht noch öfter auf – selbstverständlich ohne dass man die Schüler darauf explizit hinweist. Höhle, Innenraum: Das Christentum bildet sich im Verborgenen in den Katakomben Roms. Die Mönche ziehen sich später in die Klostereinsamkeit zurück. Alles deutet auf eine innere Entwicklung, eine Innenraumbildung hin. Und die Höhle taucht auch an entscheidender Stelle im Parzival auf, dem eine ganze Deutsch-Epoche gewidmet ist. Parzival wird in einer Höhle nach einem langen, mühsamen Weg von dem Einsiedler Trevrizent über die Zusammenhänge seines Lebens belehrt. Mit den Schülern übt man hier auf der Bildebene, die Dinge zu verstehen.

Im »Parzival« hat man es mit einer Doppelbiographie zu tun, mit den zwei gegensätzlichen Lebensläufen der beiden Ritter Parzival und Gawan. Gegensätzlich sind sie insofern, als Gawan auf seinem Weg alles gelingt und Parzival ständig scheitert. Dabei ist es aber so, dass Parzival zielstrebig ein Ziel verfolgt und Gawan sich ständig ablenken lässt, vom einen ins andere gerät und nie ans Ziel gelangt. Am Ende zeigt sich, dass in der Vereinigung beider Qualitäten das eigentliche Ideal besteht. Und hieran werden bestimmte Motive der menschlichen Biographie deutlich, die dann in der anderen Deutsch-Epoche weiter behandelt werden.

Also Entwicklung und Verinnerlichung – darum geht es auch hier. Wie kann ich mein Leben selbst in die Hand nehmen und gestalten? Wie wird mein Leben zu meinem Leben? Es soll mir nicht bloß widerfahren! Das sind die biographischen Fragen dieser Zeit, manchmal eher verborgen, bis hin zu der Frage, wie eine bewusste innere Entwicklung aussehen kann. Und diese Fragen werden nicht direkt angegangen und mit den Schülern besprochen, sondern verobjektiviert, sie treten den Schülern entgegen, sozusagen als Angebot.

Zum Autor: Oscar Scholz ist Oberstufenlehrer an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart.

Anmerkung: Die Ausführungen zum Deutschunterricht folgen Anregungen meines Kollegen Andre Bartoniczek.