Masernschutzgesetz und freie Impfentscheidung

Georg Soldner

Diese Frist rückt nun nahe heran. Ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes1 endet auch die Frist für eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht gegen das Gesetz. Einen Eilantrag, die Bestimmungen des MSG bis zu einem Urteil des BVerfG auszusetzen, hat das Gericht am 11. Mai abgelehnt, gleichzeitig aber bestätigt, dass die Beschwerden nicht »offensichtlich unzulässig oder unbegründet« seien.² Damit ist wahrscheinlich, dass es in dieser Sache ein Urteil fällen wird, dessen Ausgang zum heutigen Zeitpunkt als offen eingeschätzt werden muss. Offen ist auch der Zeitpunkt, wann das Gericht eine Entscheidung fällt und ob es zu einer mündlichen Anhörung kommt. Prof. Stephan Rixen (Universität Bayreuth, Mitglied des Deutschen Ethikrates) hat zu den verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das MSG gutachterlich Stellung genommen.³ Die Vereine »Ärzte für Individuellen Impfentscheid«⁴ und die Elterninitiative »Initiative für freie Impfentscheidung« ⁵ haben sich intensiv auf diesem Feld engagiert und informieren zeitaktuell auf ihren Netzseiten.

Was heißt dies nun für die betroffenen Eltern, Lehrer und Erzieher und alle von diesem Gesetz betroffenen Fachkräfte? Einerseits hat das Gericht in seiner Ablehnung des Eilantrages deutlich gemacht, dass es hier um eine gewichtige Entscheidung geht. Die Frist für weitere Verfassungsbeschwerden ist Ende Februar 2020 abgelaufen. Es wäre sicher im Sinne der Rechtsklarheit für alle Beteiligten wünschenswert, wenn es bis zum 31. Juli 2021 zu einem Urteilsspruch käme. Andererseits besteht durchaus die Möglichkeit, dass sich das Verfahren noch länger hinziehen könnte. Hinzu kommt, dass das Thema Impfpflicht, begrenzte Impfpflicht sowie indirekte Impfpflicht mit COVID-19 eine ungeahnte Bedeutung gewonnen hat.

Schon das MSG arbeitet im Wesentlichen nicht mit einer direkten Impfpflicht. Vielmehr gestaltet es einen Hindernislauf für diejenigen, die für ihr Kind oder sich selbst keinen Nachweis der Masernimmunität erbringen können. Dieser Hindernislauf beginnt mit dem Ausschluss aus Kinderbetreuungseinrichtungen im Kleinkindalter und Kindergärten, betrifft aber zum Beispiel auch den Aufenthalt im Hort bei Schulkindern, beinhaltet Bußgelder für Schulkinder ohne Immunitätsnachweis und kann bis hin zur Einschaltung des Jugendamtes führen. Für Berufstätige in Gemeinschaftseinrichtungen gem. § 33 IfSchG kann er ein Berufsverbot bedeuten, falls sie der Verpflichtung zum Nachweis einer Masernimmunität und damit ggf. entsprechenden Impfungen nicht nachkommen. Damit hat der Deutsche Bundestag – trotz einer niedrigen einstelligen Zahl von Todesfällen an oder in Folge einer Masernvirusinfektion in Deutschland – ein System indirekter Impfpflicht eingeführt, das nicht nur verfassungsrechtlich als unverhältnismäßiger Eingriff in zentrale Grundrechte betrachtet werden kann (und vom Autor dieser Zeilen so betrachtet wird), sondern zugleich zu einer Spaltung der Gesellschaft und einer irrationalen Polarisierung von Impfbefürwortern und Impfgegnern beigetragen hat.

Demgegenüber ist die Frage der Masernelimination nicht davon abhängig, ob ein Land eine staatliche Impfpflicht einführt. Die Impfraten in Deutschland liegen zum Teil über denjenigen vergleichbarer Länder, die das Ziel der Masernelimination mit Impfpflicht erreicht haben. Wesentlich für den Nachweis einer Masernelimination ist eine ausreichende personelle und materielle Kapazität der Gesundheitsämter, Infektionsketten zu verfolgen und Viren zu typisieren, – ein zur Zeit offensichtliches Problem. In Bezug auf Maserninfektionen wird dies von internationalen Organisationen schon länger bemängelt, ohne dass die deutsche Politik darauf reagiert hätte. In einem Bericht wird bereits für 2018 die Unterbrechung der endemischen Weiterverbreitung von Masern als gegeben angesehen, obwohl dafür kein Nachweis geführt werden konnte.6

Masernimmunität und Masernimpfungen

Für Eltern und Lehrer ist es erst einmal wichtig, zu wissen, was als Masernimmunität gilt. Dies ist üblicherweise der Nachweis von zwei erfolgten Impfungen, die einen Masernimpfstoff enthalten. Wir wissen zwar, dass nicht 100 Prozent aller zweimal Geimpften immun sind, dass es »Impfversager« gibt und zwar umso mehr, je früher die erste Impfung erfolgt.7 Aber der Gesetzgeber geht pragmatisch nach zwei Impfungen von einer Immunität aus. Ab dem Alter von 13 – 15 Monaten sind jedoch ca. 95 Prozent aller Geimpften bereits nach einer Impfung immun, nachvollziehbar durch den bei der Masernimpfung möglichen Nachweis spezifischer Antikörper im Blut.8 Eine solche Messung ist frühestens vier Wochen nach Impfung zu empfehlen, sie kann zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt durchgeführt werden. Deshalb genügt in den meisten Fällen eine einmalige Masernimpfung, wenn durch eine solche Blutuntersuchung eine Masernimmunität nachgewiesen werden kann. Die Ergebnisse dieser Laboruntersuchung sollen in den Impfpass eingetragen und mit dem ärztlichen Vermerk, ob bzw. dass damit ein Nachweis der Masernimmunität gegeben ist, versehen werden. Wenn gelegentlich ein solcher Nachweis zunächst abgelehnt und auf einer zweiten Impfung bestanden wird, so widerspricht das der Rechtslage und kann entsprechend beantwortet werden. Die Kosten einer solchen Untersuchung werden in Deutschland bisher nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Die Masernimpfung ist eine sog. Lebend-Impfung mit abgeschwächten Masernviren, die in der Lage ist, bei den allermeisten Geimpften eine zuverlässige Immunität hervorzurufen und dazu keine problematischen Impfverstärker (Adjuvantien), z.B. mit Aluminiumhydroxyd, benötigt. In armen Entwicklungsländern hat sich gezeigt, dass die Masernimpfung das Immunsystem kleiner Kinder auch in seinen Abwehrleistungen gegenüber anderen Infektionen als Masern stimulieren und fördern kann.9 Dies steht im Gegensatz zu sog. »Totimpfstoffen« mit aluminiumhaltigen Adjuvantien, für die erst jüngst eine japanische Studie an rund 100.000 Kindern bestätigt hat, dass diese Impfstoffe im ersten Lebenshalbjahr in einer Dosis-Wirkungs-Beziehung (je mehr Impfungen, umso mehr Asthma) die Asthmarate von Kindern steigern können.10 Solche Effekte haben Masernimpfstoffe nicht, auch wenn Studien, wie die zum »Anthroposophischen Lebensstil« von Alm und Swartz, in einer der weltweit renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften 1999 publiziert,¹¹ und die Studie von Roselund 200912 Anhaltspunkte dafür ergeben, dass das Durchmachen von Masern im Kindesalter vor Allergien schützen kann und dieser Effekt so bei gegen Masern Geimpften nicht zu beobachten ist. Der eine Zeit lang postulierte Zusammenhang von Autismus und Masernimpfung hat sich nicht bestätigt. Dem steht weltweit weiterhin eine erhebliche Häufigkeit und Sterblichkeit an Masern in armen Ländern gegenüber, die in den letzten Jahren aufgrund vor allem politisch zu verantwortender Wirren zugenommen hat.13 In einer global vernetzten Welt gibt es deshalb sehr seriöse Argumente für eine Masernimpfung. Eine allgemeinverständliche Darstellung zu Masern und zur Masernimpfung aus Sicht anthroposophischer Ärzte enthält das Merkblatt der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland.14

In besonderem Maße gilt die Empfehlung einer Masern­immunisierung für Jugendliche und Erwachsene, deren Komplikationsrisiko in reichen Ländern deutlich höher ist als im Kindesalter. Wenn es heute noch zu einem Todesfall an Masern in Deutschland, Österreich oder der Schweiz kommt, dann sind vor allem Erwachsene betroffen! Insofern erscheint es aus Sicht des Verfassers vernünftig, dass jeder Jugendliche und Erwachsene eine Masernimmunität aufweist. Das war früher auf natür­lichem Wege der Fall, das kann heute und sicher auch noch morgen für die meisten Menschen nur mit einer Impfung erreicht werden. Medizinisch muss man konstatieren, dass angesichts des relativ hohen Komplikationsrisikos von Masern im Erwachsenenalter, der Notwendigkeit, global keine Masern in Länder mit armer, unterernährter Bevölkerung einzuschleppen oder zu übertragen (und schon gar nicht selbst dort daran zu erkranken), die Forderung nach einer Masernimmunität spezifisch für pädagogisches und medizinisches Personal nicht unbegründet erscheint.

Persönlichkeitsrechte und soziales Engagement

Problematisch erscheint aber auch hier das Instrument, mit einem Gesetz zentrale Persönlichkeitsrechte wie das Recht auf freie Berufswahl und körperliche Unversehrtheit außer Kraft zu setzen, ohne dass erkennbar wäre, dass in den deutschsprachigen Ländern das Problem Masern einen solchen Grundrechtseingriff erzwingen würde. So sind in den letzten Jahren dem Verfasser keine Fälle bekannt geworden, wo sich Erzieher und Lehrer oder Ärzte als »Superspreader« von Masern erwiesen hätten. Angesichts des gegebenen Kinderkontakts aller Eltern und vieler anderer Erwachsener entfällt vollends die selektive Begründung für das so problematische Instrument einer berufsbezogenen Impfpflicht, wie sie aktuell auch bei COVID-19 diskutiert wird. Es geht, so scheint es mir, vielmehr um die Einsicht, dass die hochansteckenden Masern insbesondere für Jugendliche und Erwachsene in Deutschland eine sehr schwere und ggf. tödliche Erkrankung darstellen können und dass die weltweite Solidarität angesichts nach wie vor sechsstelligen Zahlen von Maserntodesfällen vor allem in armen Ländern der Welt durchaus ein relevantes Argument auch im Rahmen der Waldorfpädagogik darstellen. Denn viele ehemalige Waldorfschüler und durchaus auch Waldorflehrer engagieren sich humanitär in diesen Ländern, und spätestens ein solches Engagement erfordert einen sorgfältigen Masernschutz, um nicht mehr Unglück auszulösen, als man lindern will. Von daher gesehen ist es nach meiner Auffassung richtig, dass sich alle Jugendlichen und Erwachsenen freiwillig testen lassen, ob eine Masernimmunität gegeben ist, um gegebenfalls durch eine Impfung diese Immunität herzustellen. Wobei ich darauf hinweise, dass bei Frauen mit Rötelnimmunität eventuell eine »reine« Masernimpfung vorzuziehen ist, da die Rötelnimpfung beim Erwachsenen Gelenkbeschwerden und sogar Gelenksentzündungen auslösen kann. Gleiches gilt für Männer, insofern sie sich nicht auch gegen Mumps impfen wollen, eine bekanntermaßen eher schwach wirksame Impfung. Mit einem aus der Schweiz importierbaren Einzelimpfstoff ¹5 ist weiterhin eine Einzelimpfung in Deutschland möglich.

Was tun?

Die entscheidende Frage stellt sich aus meiner Sicht damit für diejenigen Eltern, die für ihr Kind nicht oder noch nicht eine Masernimpfung durchführen möchten. Die Übergangsfrist gilt ja nur für diejenigen Kinder, die am 1. März 2020 bereits in einer Kinderbetreuung oder Schule aufgenommen worden waren, mithin nicht für sehr junge Kinder im Alter von unter 15 Monaten, wo Bedenken gegenüber einer erhöhten Wahrscheinlichkeit eines langfristigen Impfversagens bestehen.16 Die Übergangsfrist des MSG endet am 31. Juli 2021.* Im Prinzip ist eine Masernimpfung auch in der letzten Juliwoche und eine Impftiterbestimmung oder eine zweite Impfung mit einem Abstand von mindestens vier Wochen möglich. Insofern besteht die Möglichkeit, eine Entscheidung aus Karlsruhe im Frühjahr 2021 noch abzuwarten. Es ist allerdings damit zu rechnen, dass das Bundesverfassungsgericht sehr gründlich erwägen wird, wie es entscheidet, da dem Urteil in COVID-19-Zeiten eine wesentliche Bedeutung über die Masernimpfpflicht hinaus zukommen könnte.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass die verantwortlichen Organisationen der anthroposophischen medizinischen Bewegung sich konsequent für eine freie Impfentscheidung einsetzen. Das gilt auch für die Masernimpfung und Impfungen gegen COVID-19. Eine umfassende Kritik des Masernschutzgesetzes, wie sie im Gutachten von Prof. Stephan Rixen vorliegt, der zu dem Schluss kommt, dass das MSG in mehrfacher Hinsicht verfassungswidrig ist,17 bestätigt diese Haltung, die auch gegenüber einer berufsspezifischen Impfpflicht gilt.

Eine generelle Ablehnung von Impfungen erscheint vor diesem Hintergrund als fragwürdig und undifferenziert. Vielmehr gilt es, jede Impfung für sich zu beurteilen, für jeden Menschen, jedes Lebensalter, für jede soziale Situation. Von daher kann man die Lage beim Masernschutzgesetz so zusammenfassen, dass weiterhin jede und jeder und jedes Elternpaar gefordert ist, selbst zu entscheiden, und dass die Konsequenzen dieser Entscheidung erst feststehen, wenn das Bundesverfassungsgericht sein Urteil gefällt hat.

Zum Autor: Georg Soldner ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, stellvertretender Leiter der Medizinischen Sektion am Goetheanum und Leiter der Akademie GAÄD.


* Hinweis: Der Bundestag hat beschlossen, die Nachweisfrist für die Masernimmunität vom 31.07. auf den 31.12.2021 zu verlängern (Dt. Bundestag 04.03.2021Bundestagsdrucksache 19/27291 (Download), S. 14).

Betroffen von dieser Fristverlängerung sind alle, die bereits am 01.03.2020 in der aktuellen Form der Betreuung waren und diese bis zum 31.12.2021 nicht wechseln. Im Falle eines Betreuungswechsels (neu in die KiTa, Schulwechsel, ...) ist der Nachweis unverändert mit dem ersten Betreuungstag zu führen.

Der Bundestagsbeschluss kam einen Tag, bevor der Bundesrat eine Fristverlängerung bis zum 31.12.2022 als Beschlussvorlage beriet.


Anmerkungen:

1 Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz), Bundesgesetzblatt Jahrgang 2020, Teil I, Nr. 6, ausgegeben zu Bonn am 13. Februar 2020

2 www.bundesverfassungsgericht.de/shareddocs/pressemitteilungen/de/2020/bvg20-036a.html

3 www.individuelle-impfentscheidung.de/impfpflicht/verfassungsgutachten-ver%C3%B6ffentlicht-das-masernschutzgesetz-w%C3%A4re-verfassungswidrig.html

www.individuelle-impfentscheidung.de/

initiative-freie-impfentscheidung.de

6 Rabe, S.: www.impf-info.de/die-impfungen/masern/115-masern-die-impfung.html

7 WHO, Weekly epidemiological record, 28 APRIL 2017, 92th YEAR: https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/255149/WER9217.pdf

8 Strebel PM. Measles Vaccines. In: S. Plotkin's Vaccines 7th ed. Philadelphia 2017

9 Aaby, P. et al.: Routine vaccinations and child survival: follow up study in Guinea-Bissau, West Africa. Br. Med. J. 321, 1435–1438 (2000)

10 Yamamoto-Hanada K et al.: Cumulative inactivated vaccine exposure and allergy development among children: a birth cohort from Japan. Environ Health Prev Med. 2020; 25: 27. Published online 2020 Jul 7. doi: 10.1186/s12199-020-00864-7

11 Alm, J. S., J. Swartz: Atopy in children of families with an anthroposophic lifestyle. Lancet 353, 1485–1488 (1999)

12 Rosenlund, H.: Allergic Disease and Atopic Sensitization in Children in Relation to Measles Vaccination and Measles Infection. Pediatrics 123, 771–778 (2009)

13 Tanne, J.H.: Measles cases and deaths are increasing worldwide, warn health agencies. BMJ 2020; 371 doi: doi.org/10.1136/bmj.m4450 (Published 16 November 2020) Cite this as: BMJ 2020;371:m4450

14 www.gaed.de/merkblaetter/masern.html

15  Measles Vaccine live®

16 De Serres G.: Higher risk of measles when the first dose of a 2-dose schedule of measles vaccine is given at 12-14 months versus 15 months of age Clin Infect Dis. 2012 Aug;55(3):394-402. doi: 10.1093/cid/cis439

17 www.individuelle-impfentscheidung.de/impfpflicht/verfassungsgutachten-ver%C3%B6ffentlicht-das-masernschutzgesetz-w%C3%A4re-verfassungswidrig.html