Was ist das Gute in der Medizin?

Erziehungskunst | Wir kennen das zwar alle aus eigener Erfahrung, denken aber nicht so oft darüber nach: Was ist Gesundheit und wo kommt sie eigentlich her?

Giovanni Maio | Gesundheit ist die Fähigkeit des Menschen, auch das Widrige so bewältigen, dass er Gestalter seines Lebens bleibt. Gesundheit ist eben nicht einfach ein feststehender Status, sondern Gesundheit ist das Resultat eines sich einstellenden Gleichgewichtes. Insofern kann auch der beeinträchtigte Mensch sich dennoch gesund fühlen, wenn er es schafft, sich den Beeinträchtigungen nicht ausgeliefert zu fühlen, sondern durch sie hindurch das zu verwirklichen, was ihm wichtig ist. Gesundheit hat daher nicht nur mit dem zu tun, was uns widerfährt, sondern vor allen Dingen mit dem, wie wir mit dem Widerfahrenen umgehen.

EK | Warum fällt uns das Leben mit einer Erkrankung so schwer?

GM | Die Krankheit ist zunächst das Einbrechende, das den Menschen ins Bodenlose stürzen kann. Krank zu werden bedeutet, den Boden weggezogen zu bekommen, indem man schlagartig alle Sicherheiten verliert und alles fraglich wird. Man wird im akuten Zustand des Krankgewordenseins zunächst orientierungslos und man verliert den Halt. Es braucht Zeit, um sich neu zu orientieren, und dafür braucht man eben Hilfe, Gespräche, Verständnis, Austauschmöglichkeiten, Hoffnungsschimmer am Horizont.

EK | Wie macht Medizin gesund oder was an ihr macht gesund? Gibt es dafür Bedingungen?

GM | Die Medizin macht nicht von sich aus gesund. Sie kann dem Menschen helfen, sich selbst gesund zu machen. Die Medizin braucht ein Sensorium dafür, die gesunden Anteile in dem kranken Menschen herauszufinden, um genau diese gesunden Anteile zu fördern und dem Menschen dabei zu helfen, seine inneren Ressourcen zu mobilisieren. Gesundheit ist ein Ganzheitsbegriff.

Um dem Menschen dabei zu helfen gesund zu werden, muss man den ganzen Menschen sehen, man muss in Beziehung mit ihm treten, um ihm aufzuzeigen, wieviel Potential in ihm steckt und wo eine Lebensader pulsiert. Und diese Lebensader pulsiert eben nicht durch Medikamente, sondern durch das Bewusstsein, dass es so viele Dinge gibt, die einem wichtig sind und für die es sich zu leben lohnt. Die Medizin hat die Aufgabe, den Menschen vertraut zu machen mit seinem Körper und ihm die Zuständigkeit für seinen Körper zurückzugeben, in sich hineinzuhorchen und das zu tun, was dieser Körper ihm aufträgt. Natürlich sind Medikamente und Eingriffe oft sehr wichtig für die Heilung von Krankheiten, aber sie reichen eben nicht aus, weil man durch das Krankgewordensein in eine Krise gestürzt wird und es daher gilt, den Körper mit technischen Mitteln und zugleich die Seele und das Bewusstsein mit den Mitteln der Zwischenmenschlichkeit zu behandeln. So ist eben ein gutes Gespräch schon Therapie.

EK | Welche ethischen und instrumentellen Grenzen hat die moderne Medizin? Was kann sie nicht?

GM | Die moderne Medizin hat sehr viele Arsenalien entwickelt, um die körperlichen Vorgänge zu verändern, und das ist auch sehr segensreich und so lange ein Fortschritt, wie die Veränderung am Körper mit dem Anspruch vorgenommen wird, dabei den ganzen Menschen zu sehen. Leider folgt die moderne Medizin einem mechanistischen Menschenbild und reduziert den Menschen auf seinen Körper, ohne hinreichend zu reflektieren, dass sein Bewusstsein Einfluss nimmt auf den Körper und auch umgekehrt. Körper, Seele und Geist sind eng mit­einander verbunden und es ist nicht möglich, das eine zu verändern, ohne zugleich Einfluss auf die anderen Sphären zu nehmen. Gesund wird der Mensch eben durch das Gleichgewicht dieser drei Sphären des Menschen. Wenn man sich nur auf den Körper stürzt und die existentielle Not übersieht, wird man nicht richtig helfen können. Das Problem der modernen Medizin besteht darin, dass sie sich nicht als zwischenmenschliche Praxis versteht, sondern als eine Reparaturdisziplin. Das ist ihr Denkfehler.

EK | Was ist das Gute in der Medizin, wo kommt es her?

GM | Das Gute in der Medizin ergibt sich aus dem, was die Medizin für den anderen tut. Um dem anderen etwas Gutes zu tun, muss die Medizin ihr Expertenwissen erst einmal zurückstellen und ganz auf den anderen hören. Um wirklich helfen zu können, muss man anerkennen, dass der andere ein Anderer ist, der nicht so sein kann wie das, was man bisher schon kennt, sondern jeder Mensch ist in gewisser Weise neu. Man muss sich, um das Gute zu verwirklichen, für dieses Neue im Anderen interessieren, sich ganz auf ihn einlassen, seine Besonderheit erkennen, um dann das Gute so zu verwirklichen, dass man dem Anderen Antworten auf seine Fragen gibt. Medizin hat von Grund auf responsiv zu sein, sie muss sich ansprechen lassen, zuhören können, um nach dem Zuhören ein Gespür dafür zu gewinnen, welche Antwort angemessen wäre. Die Antwort, sie kann eben  nicht aus der Schublande gezogen werden, sondern sie entsteht in der Vergegenwärtigung der Individualität des Anderen. Das ist Hilfe für den anderen, dass man seine Sorge versteht und sie zur eigenen Sorge macht.

EK | Warum ist es so schwierig, in der Medizin das Gute zu finden?

GM | Nur in dem Anliegen, nach dem Guten zu suchen, kann man dem anderen vermitteln, dass man seine Not ernstnimmt. Indem man auf den anderen hört, gibt man ihm zu verstehen, dass er Bedeutung hat, und allein schon durch das Zuhören antworten wir auf seine Not, denn durch das Zuhören teilen wir uns mit. Durch das Zuhören sagen wir, dass der andere uns wichtig ist, dass es Bedeutung hat, was er sagt. Und wenn dann ein Gespräch in Gang kommt, dann entsteht Trost, weil über das echte Gespräch der andere das Gefühl bekommt, mit seiner Not nicht mehr allein zu sein. Das ist das Heilsame der Zuwendung zum kranken Menschen.

EK | Wie können Kinder und Jugendliche lernen, was für ihre Gesundheit gut ist? Was müssen wir Erwachsenen berücksichtigen?

GM | Kindern müsste man das Gefühl geben, dass sie in ihrem Sosein etwas Besonderes sind und dass es Freude macht, das Besondere, was sie sind auch zu bewahren. Das Gesundsein muss als etwas Schönes vermittelt werden. Es muss eine Freude am Gesundsein geweckt werden, weil nur über dieses Freudvolle auch ein gesundheitsbewusstes Verhalten beigebracht werden kann. Mit dem Plädoyer für Askese und Verzicht wird man nicht weit kommen. Man muss die Gesundheit positiv besetzen und für sie begeistern. Denn im Grunde ist unsere Gesundheit ein kleines Wunder, über das wir viel zu schnell einfach hinwegsehen und es für viel zu selbstverständlich nehmen. Diesen staunenden Blick auf unser so wohlgeordnetes Ganzes in uns sollten wir wieder neu erlernen.