Raisi will zur Bank und Hakim springt über seinen Schatten

Ingrid Schütz

Scheherezade und ihr Kopftuch

»Das kann ich nicht nehmen!« Raisi schüttelt nachdenklich den Kopf. »Da bin ich ja ganz schwarz drauf!« Sie lacht. Mit dem Foto will sie sich um einen Ausbildungsplatz als Bankkauffrau bewerben. Eine Bankmitarbeiterin mit Kopftuch, das wäre sogar in Berlin etwas Besonderes. Jetzt muss sie wohl noch einmal ein Foto machen lassen – wieder mit Kopftuch, aber in einer freundlicheren Farbe. Raisi wohnt mit ihrer Familie in einem Hochhaus in Tegel. Die Eltern sind palästinensische Flüchtlinge. Die Mutter hat es nach Syrien, den Vater nach Jordanien verschlagen. Kennengelernt haben sie sich in Deutschland. Dann sind da noch zwei Brüder und ihre beste Freundin Elena, Tochter russischer Spätaussiedler, die vor fünf Jahren zum Islam konvertiert ist.

Strahlend öffnet Elena die Tür. Die Familie hat sie quasi aufgenommen. Die Mutter werkelt in der Küche. Sie spricht immer noch kein Deutsch. Im Wohn- und Esszimmer stehen ausladende Polstermöbel, um die Fenster sind schwere Vorhänge drapiert, über dem Esstisch hängt ein in Gold gestickter Koranvers und in jedem Zimmer steht ein großer Flachbildschirm. Die Mutter ist die einzige, die in der Wohnung das Kopftuch abgelegt hat. Sie zupft ein wenig an Raisis Tuch herum und lacht. Raisi mag das nicht, sie will ihr Kopftuch nicht ablegen: »Auch nicht für eine Bewerbung«, sagt sie. »Würden Sie Ihre Kleidergewohnheiten denn einfach ändern?« Zuerst war Raisi bange, ob ihre Eltern die Bewerbung bei der GLS-Bank unterstützen würden. Sie ist begeistert von einer Bank, in der der Kunde mitbestimmen kann, in welchem Bereich sein Geld als Kredit weitergegeben werden soll. Ihre Lehrer an der Emil-Molt-Akademie in Steglitz unterstützen sie und helfen ihr beim Schreiben der Bewerbung. Auch Raisis Eltern finden das gut. Sie wollen, dass ihre Tochter einmal auf eigenen Füßen steht. Spannend – ob bald die erste junge Frau mit Kopftuch hinter einem Bankschalter in Berlin stehen wird?

Raisi ist eine beeindruckende Erscheinung, eine Erzählerin, eine moderne Scheherazade. Um ihren Abschluss hat sie schwer gekämpft. In einem Jahr von der Sozialassistentin zur Fachhochschulreife – das ist schon eine Leistung! Jetzt ist sie fest entschlossen, selbst herauszufinden, was sie will und was nicht und lässt sich von niemandem dreinreden. Ihre Deutschkenntnisse will sie auf jeden Fall perfektionieren, denn sie hat verstanden, dass Deutsch die Schlüsselkompetenz ist: »Ohne Deutsch geht nichts, nicht Englisch, nicht Pädagogik, nicht Recht und selbst Mathe – man muss die Textaufgaben verstehen können!«

Die Unterschiede zwischen Jugendlichen deutscher und nichtdeutscher Herkunftssprache sind frappierend: In Berlin erlangten im Schuljahr 2014/15 insgesamt etwas mehr als 41 Prozent aller Schulabgänger die allgemeine Hochschulreife. Bei den Schulabgängern nichtdeutscher Herkunftssprache waren es nur 27,3 Prozent und annähernd zehn Prozent der Berliner Jugendlichen hat im vergangenen Schuljahr die Schule ohne Berufsbildungsreife, also ohne Hauptschulabschluss verlassen. Bei den Schülern ohne deutsche Herkunftssprache sind es sogar 14 Prozent.

Was brauchen Schülerinnen wie Raisi und andere, begabte junge Leute, die sich für die Welt interessieren, aber durch ihre Herkunftssprache und ihre Kultur benachteiligt sind? Was muss geschehen, damit ihre Talente nicht verloren gehen? Die Prüfungstexte im Fach Deutsch entsprechen dem klassischen Bildungskanon: Wedekind und Kafka, Lessing und Schiller – die Themen sind Toleranz und Religion, Ausgrenzung und Generationenkonflikt – doch viele Schüler haben große Mühe Lessings und Schillers Deutsch zu verstehen: Die alte Sprache, die Bezüge zur europäischen Geistesgeschichte und die christliche Symbolik sind ihnen fremd. Die Schüler fühlen sich nicht dort abgeholt, wo sie stehen. Sollten nicht gerade in einer Stadt wie Berlin darum auch interkulturelle Themen und Autoren Prüfungsstoff sein?

Hakim und das Theater

Hakim besucht ebenfalls die Emil-Molt-Akademie und macht gerade ein sechsmonatiges Praktikum bei einem Steuerberater. Seine Eltern sind aus dem Libanon. Mit sechs Jahren wurde er Heimkind. Die Mutter ist gestorben, der Vater im Gefängnis. Inzwischen ist er Jahrgangsbester und fest entschlossen, sein Potenzial anders einzusetzen als sein Vater. Immer noch hat er die deutsche Staatsangehörigkeit nicht erhalten. »Auf der Ausländerbehörde haben sie mich allen Ernstes gefragt, ob ich einer terroristischen Gruppe angehöre«, sagt der 21-Jährige und wendet den Blick ab. »Ich möchte mich in Deutschland integrieren, aber man lässt mich nicht!« Hakim berichtet von seinen ehemaligen Mitschülern: Ihre Sprachkenntnisse reichten nicht fürs Gymnasium, in der Hauptschule fühlten sie sich unterfordert, vor lauter Frust und Perspektivlosigkeit wanderten viele von ihnen ins kriminelle Milieu ab, dort fanden sie dann die gesuchte Anerkennung. Eigentlich steht Berlin ja im bundesweiten Vergleich gut da mit seiner Abiturquote, aber es ist ein offenes Geheimnis, dass wohl nirgends die Hochschulreife so einfach zu erreichen ist wie in Berlin. Trotzdem ist es ein verhältnismäßig geringer Prozentsatz an Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache, der sie schafft. Es ist ein Teufelskreis: Wer sich ausgegrenzt fühlt und an sich zweifelt, der hat auch weniger Erfolgserlebnisse und wem diese fehlen, der grenzt sich selber aus. Einen Ansatz gegen­zusteuern, bietet die Emil-Molt-Akademie: Die Lehrer versuchen durch individuelle Betreuung und zusätzlichen künstlerischen Unterricht, die Schüler zu fördern.

Hier werden neben Deutsch und Mathe, Wirtschaft und Recht auch Eurythmie und Darstellendes Spiel, Plastizieren und Chorsingen unterrichtet. Hakim ist ungeduldig, er will hier seinen Abschluss machen, konzentriert arbeiten. Er hat klare Ziele und seine schulischen Leistungen sind fast durchgehend sehr gut. Wozu braucht er da Eurythmie und Darstellendes Spiel? Bevor Hakim das halbjährige Praktikum antritt, macht die Klasse ein zweiwöchiges Theaterprojekt. Hakim kann seine Rolle als erster auswendig. Den Text beherrscht er, aber etwas anderes ist neu für ihn: Er muss sich auf künstlerische Prozesse einlassen, in der Lage sein, Vorgaben und Vorstellungen jederzeit loszulassen, aus der Situation heraus zu reagieren. Das ist nicht einfach für ihn. Er beschwert sich, gestern habe man noch dieses abgemacht, heute soll man aber jenes tun! Man kann sich auf ihn verlassen, er will sich auch auf andere verlassen können. Hakim weiß aber auch von seinen Defiziten, er sagt: »Ich finde es eigentlich ganz gut, dass ich auch mal über meinen Schatten springen muss. Ich habe mir ohnehin vorgenommen, mich zu ändern.« Vielleicht gelingt es ihm, vielleicht lernt Hakim im Theaterprojekt Situationen zu schätzen, in denen alles ins Schwimmen gerät, er aber dennoch nicht untergeht.

Raisi hat offenbar von diesem Konzept profitiert. Im Herbst hat sie im Theaterprojekt mitgespielt, im Frühjahr ist sie in Mathe von einer Fünf auf eine Zwei gerutscht und heute ist sie stark genug, ihre Identität zu wahren, ohne sich abzugrenzen. Auch wenn eine Frau mit Kopftuch an der Rezeption eines Hotels immer noch nicht denkbar ist, weil »die Kunden das nicht wollen« – vielleicht hat Raisi jetzt die Chance, auf der Bank andere Erfahrungen zu machen.

Zur Autorin: Ingrid Schütz ist Lehrerin für Englisch und Deutsch an der Emil-Molt-Akademie in Berlin.