Raushalten gibt es nicht

Erziehungskunst | In Ihrem neuen Jugendbuch »Unsichtbare Wunden« schreiben Sie über Mobbing mit tödlichen Folgen. Was hat Sie dazu gebracht, diese Geschichte zu schreiben?

Astrid Frank | Zu diesem Thema bin ich durch eine persönliche und leidvolle Erfahrung gekommen. Einer meiner Söhne wurde im Kindergarten gemobbt. Erschreckend war für mich die Erkenntnis, dass weder die Erzieherin noch wir Eltern mitbekommen und begriffen haben, was da vor sich ging.

Mobbing findet zunächst im Verborgenen statt. Es ist ein sich entwickelnder gruppendynamischer Prozess, der erst sichtbar wird, wenn die Situation für das Opfer so unerträglich geworden ist, dass sich die Folgen in seinem Verhalten widerspiegeln. Dies ist der Moment, in dem wir Erwachsene zum ersten Mal hinschauen. Oft glauben wir dann, das sonderbare Gebaren des gemobbten Kindes sei Grund der Ausgrenzung und übersehen, dass sein Verhalten Folge und nicht Ursache des Mobbings ist.

Unser Sohn erzählte uns das erste Mal von den erlittenen Demütigungen, nachdem er den Kindergarten gewechselt hatte. Erst in diesem Moment begriff ich das Ausmaß des Geschehens. Doch damit standen wir erst am Anfang eines langen Weges. Die Suche nach Hilfe für unser Kind, das Erlebte zu verarbeiten, stellte uns vor massive Herausforderungen. Da es nur wenige Spezialisten für Mobbing gibt, war ich darauf angewiesen, mich selbst kundig zu machen. So habe ich unzählige Fachbücher gelesen, mich mit Betroffenen und Psychologen ausgetauscht und dabei erkannt, wie wichtig es ist, für alle nachvollziehbar zu machen, was bei Mobbing tatsächlich geschieht. Damit war die Idee zu »Unsichtbare Wunden« geboren.

EK | Sie halten deutschlandweit Vorträge und Lesungen und geben Anregungen zur Unterrichtsgestaltung zum Thema Mobbing. Was ist Ihre Botschaft?

AF | Die Herangehensweise über Literatur hat den Vorteil, dass wir das belastende Thema Mobbing ohne Schuldzuweisungen behandeln können. Wir kommen völlig ohne die persönliche Ebene aus und lassen den Prozess dennoch emotional erfassbar werden. Meine Lesungen ermöglichen Schülern einen angstfreien Zugang zum Thema. Sie erkennen, welche Rolle sie selbst in ihrer Klassengemeinschaft spielen, ohne für ihr Verhalten angeklagt zu werden, und begreifen, dass es in diesem gruppendynamischen Prozess kein »Raushalten« gibt. Sie werden resensibilisiert, dass es in ihrer Macht liegt, Mobbing zu verhindern.

In meinen Vorträgen für Erwachsene geht es darum, alle Verantwortlichen zu befähigen, gemeinsam gegen Mobbing aktiv zu werden. Eine konstruktive Arbeit gegen Mobbing in der Schule scheitert oft daran, dass wir auf der einen Seite emotional betroffene Eltern haben und auf der anderen Seite Eltern, die entweder glauben, das Thema Mobbing sei für sie irrelevant oder sich in einer Abwehrposition befinden, wenn ihr Kind das »Täterkind« sein soll. Lehrer hingegen wissen häufig nicht, wie sie die Problematik in den Griff bekommen können. Aus dieser Unsicherheit resultiert dann, dass alle dem Opferkind die Schuld zuschreiben und die Situation damit noch verschlimmern. Ich möchte den Beteiligten vermitteln, dass sie Mobbing nicht machtlos gegenüberstehen müssen. Kenntnisse über Mobbing machen sowohl Schüler als auch Lehrer und Eltern wieder handlungsfähig.

EK | Was raten Sie betroffenen Schülern?

AF | Mobbingopfer suchen häufig die Schuld bei sich. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass ihnen dies von allen Seiten suggeriert wird. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, uns bewusst zu werden, dass es kein typisches Mobbingopfer gibt! Unter den Betroffenen finden wir gute wie schlechte Schüler, hübsche und weniger hübsche, dicke, dünne, große, kleine, introvertierte und extrovertierte ... Auch Schüler, die zuvor beliebt waren, können in die Opferrolle geraten. Es ist deshalb ein wesentlicher Punkt, sich nicht selbst die Schuld zu geben! Auf dieser Basis ist es möglich, Hilfe einzufordern. Mobbingopfer sollten sich jemandem anvertrauen, der sie unterstützt. Aber ohne die Bereitschaft der Schule, das Problem sehenden Auges anzugehen, stehen Betroffene oft alleine da.

EK | Was raten Sie Eltern?

AF | Eltern sollen sich bewusst werden, dass ihr Kind gut ist, wie es ist, und ihm versichern, dass sie an seiner Seite stehen, bis ein Ausweg gefunden wird. Und auch hier gilt: Ohne die Kooperationsbereitschaft der Schule gibt es wenig Handlungsspielraum. Eltern sollen deshalb versuchen, sich die Unterstützung der Schule zu sichern.

EK | Was raten Sie Lehrern?

AF | Lehrer spielen bei Mobbing eine entscheidende Rolle. Leider stehen auch sie oft alleine da. Hier ist Rückhalt durch das Kollegium und die Elternschaft von immenser Bedeutung. Auch Lehrer sollten sich bewusst machen, dass es nicht ihre Schuld ist, wenn es in einer Klasse zu Mobbing kommt. Es liegt aber in ihrer Verantwortung, diese Gewalttaten zu unterbinden. Deshalb ist es unabdingbar, sich umfassend über Mobbing zu informieren.

EK | Sind also immer die »Täter« Schuld? Und spielen Situationen und Konstellationen keine Rolle?

AF | Die Schuldfrage ist bei der Verhinderung von Mobbing kontraproduktiv. Aber Mobbing beginnt beim Täter und nicht beim Opfer! Es ist sein Bedürfnis nach mehr Macht, Anerkennung oder einem stärkeren Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe, das ihn zu den Handlungen bewegt. Möglich aber wird es erst durch das Verhalten der Gruppe!

Wir stellen bei Mobbing immer die Frage: Warum wird der oder die gemobbt? Dabei sollten wir fragen: Warum mobbt der oder die? Was fehlt ihm oder ihr, um sich in der Gemeinschaft wohlzufühlen? Dabei spielen Situationen, aber vor allem Konstellationen eine entscheidende Rolle: Dasselbe Kind kann in einer Gruppe zum Opfer werden und in einer anderen zum Täter. Wir müssen lernen, Mobbing als gruppendynamischen Prozess zu betrachten – losgelöst von den individuellen Eigenschaften der involvierten Personen.

EK | Sie fordern, dass Methoden der Mobbingprävention Eingang in die Lehrer- und Erzieherausbildung finden müssen. Warum?

AF | Mehr als zwei Drittel aller Mobbingfälle in der Schule werden von Lehrern nicht erkannt oder durch falsche Intervention verschlimmert. Lehrer und Erzieher sind aufgrund von mangelndem Verständnis für Mobbing häufig über­fordert. Die Vermittlung von Präventions- und Interventionsmaßnahmen bereits während des Studiums oder der Ausbildung würde Lehrer und Erzieher handlungskompetent machen.

EK | Warum sind die Folgen von Mobbing medizinisch relevant?

AF | Die gesundheitlichen Folgen für das Opfer sind gravierend. Abgesehen von mangelndem Selbstwertgefühl und damit sinkender Leistungsfähigkeit führt Mobbing nachweislich zu einer Vielzahl von zum Teil lebenslang anhaltenden psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, Depression, soziale Phobie, Essstörungen, Drogenmissbrauch bis hin zu Suizid – etwa 20 Prozent aller Selbstmorde sind auf Mobbing zurückzuführen.

EK | Warum ist Mobbing immer noch ein gesellschaftliches Tabu?

AF | Bei meinen Lesungen bemerke ich immer wieder, dass die Jugendlichen intuitiv genau wissen, was Mobbing ist und wie es funktioniert. Wenn sie nicht in eine Verteidigungshaltung gedrängt werden, können sie gut reflektieren, dass das Opfer unverschuldet in seine Position geraten ist. Das lässt natürlich für sie die Schlussfolgerung zu, dass es ihnen genauso gehen könnte. Diese Erkenntnis ist beängstigend – und Dinge, die uns Angst machen, weisen wir gerne von uns.

Erwachsenen geht es nicht anders: Im Berufsleben laufen wir Gefahr, selbst Mobbingopfer zu werden, als Eltern müssen wir uns um unsere Kinder sorgen. Ist es da nicht leichter zu behaupten, dass Menschen, denen »so etwas« widerfährt, selbst Schuld sind? 500.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland machen während ihrer Schulzeit Mobbingerfahrungen. 1,5 Millionen Erwachsene sind im Berufsleben betroffen. In Anbetracht dieser Zahlen gehört das Thema Mobbing auf den Tisch – und nicht unter den Teppich.

Zur Person: Astrid Frank, geboren 1966, studierte Biologie, Germanistik und Pädagogik und arbeitete bereits während des Studiums als Lektorin und Übersetzerin für mehrere deutsche Verlage. Seit 1999 schreibt sie Geschichten für Kinder und Jugendliche.

www.unsichtbare-wunden.de