Realität schlägt Virtualität

Ingo Leipner

Die »London Acorn School« ist keine Waldorfschule. Was sie auszeichnet, ist ihre klare Position zu digitalen Medien. Auf der Website der Schule heißt es: »Die wachsende Abhängigkeit von Smartphones begrenzt immer mehr die Ruhezeit, die unser Gehirn nötig hat, um zu träumen und zweckfrei auf Wanderschaft zu gehen. Das ist besonders schädlich für die kognitive Entwicklung der Kinder. Wir führen daher Technologie spät ein und sind in den ersten Jahren sehr vorsichtig, wenn wir unsere Kinder dem Bildschirm aussetzen.«

In dieser Schule benutzen Schüler unter zwölf Jahren keine Smartphones oder Computer, sie schauen auch kein Fernsehen, auch nicht in den Ferien. Dabei geht es der Schule um eine »graduelle Integration« elektronischer Geräte. Das Internet bleibt für alle unter 16 Jahren unzugänglich – zu Hause und in der Schule. Ab 14 Jahren werden Computer als Teil des Unterrichts eingesetzt.

Sarah Thorne leitet die »London Acorn School«. Laut »Guardian« hat sie gute Gründe für diesen restriktiven Umgang mit digitalen Medien. Das erlaube den Lehrern, viel wichtigere Fähigkeiten als das Ausfüllen von Excel-Blättern zu fördern, nämlich zentrale Kompetenzen wie Urteilsfähigkeit, Kreativität und Konzentration. »Schule ist eine Bildungsreise«, sagt Thorne, »wir wollen sie so vielfältig, reich und interessant wie möglich machen.«

Deshalb fordert das »Bündnis für humane Bildung« und ELIANT digitalfreie Kindergärten und Grundschulen. Diese Forderung unterstützen fast 100.000 Menschen in Europa, die eine Petition der beiden Organisationen unterschrieben haben. Denn, so die These: Erst auf weiterführenden Schulen erreichen junge Leute die kognitive Reife, um mit IT-Systemen kreativ umzugehen. Der berühmte Entwicklungsbiologe Jean Piaget bezeichnet diese Zeit zwischen dem 12. und 14. Lebensjahr als »formal-operative Phase«. In diesem Lebensabschnitt finden im Gehirn allmählich formale Operationen statt, zu denen Grundschüler und Kindergartenkinder noch nicht in der Lage sind. Das heißt: Abstraktes Denken und Selbst­reflexion reifen heran – unabdingbare Voraussetzungen für einen mündigen Umgang mit Computern.

Neben dem Alter gibt es ein weiteres Kriterium, wann Computer sinnvoll zur Anwendung kommen können. Es lässt sich unterscheiden zwischen einer aktiven und passiven Nutzung digitaler Medien: Für passive Lernprogramme ist ein großer Datenstaubsauger nötig, um im Speicher die »richtige« Aufgabe für den Schüler zu finden – genannt »Learning Analytics«. Dazu liefert Dirk Ifenthaler von der Universität Mannheim eine Definition: »Learning Analytics verwendet dynamisch generierte Daten von Lernenden und Lernumgebungen, um diese in Echtzeit zu analysieren und zu visualisieren, mit dem Ziel der Modellierung und Optimierung von Lehr-Lernprozessen und Lernumgebungen.« »Learning Analytics« erfasst, wie lange bestimmte Daten genutzt werden, und wie lange sich ein Lernender in der Lernumgebung aufhält. Auf welchen Pfaden ist er unterwegs, was schreibt er in Beiträgen für Diskussionen, wie ist sein Lernfortschritt – auch im Vergleich zu seinen Mitschülern. Darauf sollen Interventionen und Prognosen aufbauen. Alle Daten werden in Bezug gesetzt zu lernpsychologischen Erkenntnissen, »um Lernprozesse und Verhaltensweisen der Nutzer zu verstehen und zu unterstützen«, so Ifenthaler.

Das hört sich wissenschaftlich an, doch die Konsequenzen sind fatal. Sybille Schmitz hat die pädagogischen Grenzen solcher passiven Lernprogramme aufgezeigt; sie ist Referentin und Beraterin für frühkindliche Bildung und Entwicklung. Ihr Beispiel ist die Lernsoftware »Anton«: Diese App ist zur Zeit sehr populär und bietet über 100.000 Aufgaben mit mehr als 200 Übungstypen, interaktive Erklärungen und viele Lernspiele. In diese »LernApp« sind virtuelle Belohnungen wie Münzen, Pokale oder eine Avatar-Ausstattung eingebaut, bereits ab der ersten Klasse. Damit werden eigene Leistungen mit äußeren Belohnungen verknüpft, was die extrinsische Motivation in den Vordergrund rückt und die intrinsische untergräbt. Zudem wird die Suchtschleife im kindlichen Gehirn aktiviert. Das gilt auch für die angebotenen Spiele. Ferner stellt Schmitz fest: Das Gehirn werde träge, denn Kinder müssten beim Bedienen einer »LernApp« viele durchaus auch anstrengende Leistungen nicht mehr erbringen. Ein Beispiel: Es ist viel anstrengender für einen Schüler, ein Koordinatensystem mit Bleistift und Lineal sauber zu zeichnen und zu beschriften, als diese Aufgabe einfach durch Klicken in einem Auswahlmenü zu lösen. Gerade im Fach Geometrie ist für das Langzeitgedächtnis der selbstständige Umgang mit Zirkel, Radiergummi, Bleistift, Geo-Dreieck und Lineal essentiell, um einen nachhaltigen Lernprozess zu sichern. Diese Arbeit ist zwar anstrengender als das Anklicken von Lösungen, »aber der Stolz auf die eigene Leistung«, so Schmitz, »ist um ein Vielfaches größer.« So füllt sich das Heft, haptisch wahrnehmbar, die eigene Leistung lässt sich »be-greifen«. »So wird der Lernerfolg langfristig (…) als echte eigene Leistung erlebt«, sagt Schmitz. Und was die aktive Mediennutzung betrifft, ist wirkliche »Medienmündigkeit« (Paula Bleckmann) weit mehr als reine »Wischkompetenz«. Dabei muss neben die Fähigkeit zur Rezeption, Konzentration und Kritik auch eine produktive Kompetenz treten. Es geht um solides Handwerk bei der Medienproduktion, denn wer in der Schule erzählen und argumentieren lernt, kann auch Texte schreiben, die ihre Leser überzeugen. Wer die Sprache von Bildern versteht, kann Fotos machen oder Videos drehen, die sich auch auf einer Website sehen lassen können. Kombiniert mit »Edge Computing« (dezentrale Datenverarbeitung ohne Cloud) könnte auf diese Weise ein spannender Umgang mit digitalen Medien entstehen – wenn Kinder ab zwölf Jahren die nötige Reife erreicht haben.

Das »Edge Computing« ist ein ursprünglich für die Industrie entwickeltes Konzept, das Betriebsgeheimnisse besser wahren soll. Wichtige Daten eines Unternehmens entstehen lediglich vor Ort und offline, sie werden direkt am Standort verarbeitet. Dieses Konzept kann ein Vorbild sein, um einen vernünftigen Umgang mit sensiblen Schülerdaten sicherzustellen. Linux als Betriebssystem und Open Source-Software machen es möglich, im Intranet und offline alles zu lernen, was nötig ist: Programmieren, Anwendungen wie Textverarbeitung, Filmschnitt oder Webpublishing. Dabei gehen keinerlei Schülerdaten ans Netz verloren. Besonders in Corona-Zeiten gehören sichere und qualitativ hochwertige Angebote zu einem digitalen Fernunterricht. Bei deren Einsatz ist der Datenschutz und der Standort der Server zu beachten.

Die Niederlande gelten als digitales Paradies: Das Land ist weltweit führend, wenn es um Breitbandanschlüsse fürs Internet geht. Auf den ersten Lockdown reagierten die Behörden umgehend und statteten die Schüler mit geeigneter Technologie aus, zum Beispiel mit Laptops. So schien ein erfolgreicher Fernunterricht programmiert zu sein, bis Wissenschaftler aus Oxford begannen, die Daten auszuwerten. Sie hatten zuvor für das »Leverhulme Centre for Demographic Science« die Leistungen untersucht, die 350.000 Grundschüler im Lockdown erbrachten. Für ihre Untersuchung boten die Niederlande optimale Voraussetzungen: »Der Schlüssel zu unserem Studien-Design«, so die Bildungsforscher, »war der Umstand, dass in Holland zweimal nationale Prüfungen erfolgen.« Die Termine: Januar/Februar und Mai/Juni, also genau vor und nach den Schulschließungen, die acht Wochen anhielten und am 16. März 2020 begannen. Zum Vergleich zogen die Wissenschaftler die Prüfungsergebnisse der Jahre 2017 – 2019 heran.

Resultat: »Der durchschnittliche Lernverlust entspricht einem Fünftel des Schuljahres, also fast genau dem Zeitraum, in dem die Schulen geschlossen blieben«, schreiben Per Engzell und seine Kollegen. Im Klartext: Die Kinder hätten auch acht Wochen Däumchen drehen können! »Diese Ergebnisse bedeuten«, so die Wissenschaftler, »dass die Schüler beim Homeschooling nur geringe oder gar keine Fortschritte gemacht haben.« Besonders alarmierend: Bis zu 55 Prozent betrugen die Verluste, die sich bei Schülern aus bildungsfernen Haushalten einstellten. Zur Studie äußerte sich auch der deutsche Bildungsökonom Ludger Wößmann. Er sagte in der Frankfurter Rundschau: »Ich fürchte, dass aufgrund der längeren Schulschließungen bei uns die Lernverluste noch deutlich größer sein dürften.«

Zu diesen wissenschaftlichen Ergebnissen passen subjektive Eindrücke, die eine Musiklehrerin in Baden-Württemberg gesammelt hat. Sie stürzte sich engagiert in den digitalen Fernunterricht – u. a. mit »Radiosendungen«, gemeinsam produziert mit Schülern. Ihre Einschätzungen zum »Homeschooling«:

  • »Viele Kinder lesen nicht mehr wirklich, was im Text steht, sondern klicken planlos drauflos.«
  • »Als Lehrerin erlebe ich eine zunehmende Entgrenzung, weil zu jeder Tages- und Nachtzeit Mails oder interne Mitteilungen eingehen, von Schülern oder Eltern. Das ist zwar auch Individualisierung, aber sie geht ... ins Uferlose.«
  • »Die Kinder sind nach sechs bis acht Stunden On line-Unterricht völlig erschöpft (wie die Lehrer auch!).
  • Es ist mehr Zeit für selbstständiges, freies Arbeiten nötig. Kinder lassen sich nicht einfach durchtakten.«
  • »Eltern betonen, wie wichtig persönliche Zuwendung ist (Gesicht zeigen). Also persönliche Ansprache und persönliches Nachfragen.«

Digitaler Notunterricht über die Distanz bleibt eine Krücke, auf die wir rasch wieder verzichten sollten. Was nichts an der Notwendigkeit ändert, diesen Notunterricht zu praktizieren, um Schüler nicht völlig ins Hintertreffen geraten zu lassen. Wer ein gebrochenes Bein hat, freut sich auch über Krücken. Echtes Lernen ist immer ein sozialer Prozess, gekoppelt an die Begegnung mit anderen Menschen. Dazu brauchen wir gute Lehrer, die mit ihren Klassen so arbeiten, dass ein Funke der Begeisterung überspringt. Lernen findet nur in »Resonanzräumen« (Hartmut Rosa) statt. Das gelingt vor allem im Präsenz-Unterricht, der keiner digitalen Euphorie geopfert werden darf. Es muss nach Corona genau geprüft werden, wieviel digitale Infrastruktur wir bewusst zurückbauen, um die Resonanz zwischen den Menschen wieder herzustellen. Denn diese Resonanz würde auch bei perfekten digitalen Systemen auf der Strecke bleiben. Corona sollte auf keinen Fall dauerhaft Bildschirme in Kindergärten oder Grundschulen spülen, auch wenn die IT-Lobby im Moment Morgenluft wittert.

Zum Autor: Ingo Leipner ist Diplom-Volkswirt, Journalist und Buchautor www.ecowords.de

Literatur: I. Leipner: Die Katastrophe der digitalen Bildung, Redline, München 2020 | London Acorn School: »The shared beliefs that define us«, in: https://thelondonacornschool.co.uk/our-school/shared-beliefs-that-define-us/ vom 14.08.2020 | M. Jenkin: »Tablets out, imagination in: the schools that shun technology«, in: https://www.theguardian.com/teacher-network/2015/dec/02/schools-that-ban-tablets-traditional-education-silicon-valley-london#comments vom 06.07.2020 | G. Lembke / I. Leipner: Zum Frühstück gibt’s Apps, Heidelberg 2020 | D. Ifenthaler / C. Schumacher: «Learning Analytics im Hochschulkontext», Wirtschaftswissenschaftliches Studium (WISt), Heft 4, April 2016, München, S.176 – 181 | R. Lankau: »Vom Mittel zum Selbstzweck?«, in: http://www.aufwach-s-en.de/2018/08/vom-mittel-zum-selbstzweck/#more-1256 vom 21.07.2020