Frei nach dem Hessewort »und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne« erleben Kinder, Eltern und Lehrkräfte oft die ersten »goldenen Wochen« oder Monate einer neu eingeschulten 1. Klasse. Doch irgendwann kehrt dann der Schulalltag ein und nach einem heftigen Streit auf dem Pausenhof kommen weinende Kinder in die Klasse gelaufen. Außer sich über das erlebte Unrecht suchen sie Schutz und Hilfe bei ihrer Lehrerin. Aufmerksam zuhörend macht diese sich zunächst ein Bild des Geschehens und ruft dann die ganze Gemeinschaft im Klassenraum zusammen. Nun sind es die Kinder, die ihren beruhigenden Worten zuhören: Die am Streit Beteiligten werden ohne persönliche Verurteilung benannt. Ein Bild des Geschehens wird aufgebaut, angeschaut und es werden Ziele formuliert für den nächsten Tag. Als sie am Ende beginnt, ein Märchen zu erzählen, staunt sie selbst, wie sehr sich die große Aufregung durch das Gespräch beruhigt hat und wie die Kinder nun ihre Aufmerksamkeit wieder nach innen wenden können. Im tiefsten Ernst verbinden sie sich mit den Figuren des Märchens auf ihrem Weg zwischen Recht und Unrecht, Gut und Böse, so als habe die Heftigkeit des Streits das Bedürfnis nach diesen inneren Bildern noch verstärkt.
Im Rückblick auf seine Kindheit beschreibt Nelson Mandela, wie bedeutend für ihn solche Urbilder in den Geschichten seiner Mutter waren. Die Erzählungen von Menschen, die sich selbst überwanden, den Entschluss fassten, die Not anderer zu lindern, und wie sich so neue, unerwartete Schicksalswendungen zum Guten vollziehen: »Tugend und Edelmut erhalten ihren Lohn auf eine Weise, die man nicht im Voraus kennen kann.«
Geschichten geben Orientierung
In den ersten Schuljahren bleibt die Wirkmächtigkeit der inneren Bilder, die auf höhere Ziele und menschliche Ideale hinweisen, ungebrochen. Die Themen verwandeln sich von den Legenden und Fabeln über die biblischen Geschichten zu den Erzählungen aus dem Handwerker-Leben. Je mehr die erzählten Bilder den jeweiligen seelischen Entwicklungsphasen entsprechen, desto tiefer können sie von den Kindern mitempfunden werden. Im Seelischen sieht sich der junge Mensch vor Entscheidungssituationen gestellt und lernt, sich anhand der Geschichten an ihnen zu orientieren. Es bewegt die Schüler sehr, wie etwa ein Lehrling zwischen streitende Handwerker gerät oder warum es Loki in der nordischen Mythologie vermag, Zwietracht unter die Götter zu bringen.
Gemeinsam etwas tun
Neben diesem Strom des inneren Miterlebens entwickelt sich in der 3. und 4. Klasse eine verstärkte Handlungsfähigkeit: Nun wird es möglich, im Einklang mit den Themen und Bildern des Unterrichts Impulse auf der Handlungsseite zu entwickeln, durch die sich die Kinder bis in den eigenen Willen hinein mit höheren Idealen verbinden. In einem Bauprojekt oder auf einem Hoffest nach der Erntearbeit erleben sie, was durch ihr Tun in der Gemeinschaft erreicht werden kann, wenn sich durch die Anstrengung vieler Einzelner eine friedliche Zusammenarbeit verwirklicht. Je nach Klassensituation werden auch in Handwerkerspielen oder Theaterszenen die Entstehung, der Ausbruch und die Überwindung von Streitsituationen durchlebt und geübt.
In Würde streiten lernen
Auf einer nächsten Entwicklungsstufe, angekommen in der 6. Klasse, hat sich die Dynamik des Pendelschlags zwischen innerem Erleben und äußerem Handeln stark verändert. Persönliche Sympathien und Antipathien können sich bis zu existentiellen Streitszenen steigern: Wo diese aufbrechen, sind die Beteiligten von dem Geschehenen im innersten Kern betroffen, haben aber in dieser Phase oft noch nicht die Möglichkeit, die äußeren Handlungen in einem inneren Dialog zu verwandeln. Entsprechend werden die Gespräche darüber mit der Klasse, mit Gruppen und mit Einzelnen direkter und deutlicher in Bezug auf mögliche und notwendige Konsequenzen. Die Frage nach der Konsequenz des Handelns zieht sich als roter Faden durch den Lehrplan dieser Stufe: Jede Tätigkeit im Werkunterricht oder in der Geometrie zeigt ihre Spuren am entstehenden Werk. Aus dem Erleben physikalischer Experimente können in der Konsequenz der Abläufe Gesetzmäßigkeiten erschlossen werden. Auch im Durchleben des geschichtlichen Auf- und Abstiegs der römischen Kultur treten die Konsequenzen kriegerischer oder friedvoller Handlungen deutlich hervor.
In konkreten Streitsituationen nehmen die Schüler ihre Erzieher mit neuer Aufmerksamkeit und Empfindsamkeit wahr. Die Art wie sie eingreifen, zuhören und sich ihr Urteil bilden, steht auf einem inneren Prüfstand: Wird zunächst gefragt und wahrgenommen, oder werden in der Anspannung des Geschehens Urteile ausgesprochen, die sich schon zuvor verfestigt hatten? Den Heranwachsenden geht es nicht nur um die inhaltlichen Fragen, deren Berechtigung sie in der Regel eingestehen, sondern vor allem um eine würdevolle Art der Begegnung, bei der sie im gegenseitigen Zuhören und Wahrnehmen nicht verurteilt werden. Die Erwachsenen werden zu Vorbildern einer dialogischen Streit- und Gesprächskultur, die auch bei deutlichen Gegensätzen noch Wandlungsmöglichkeiten zulässt. Der Hinweis Rudolf Steiners, dass alle Erziehung im Kern Selbsterziehung ist, bewahrheitet sich hier am deutlichsten.
Der Humor darf nicht fehlen
Wie tief junge Menschen in der Zeit der Mittelstufe die Begegnungs- und Gesprächskultur der Erwachsenen aufnehmen, zeigt sich in vielen Biographien. Den 13-jährigen Nelson Mandela beindruckten vor allem die verschiedenen Redner bei den Stammestreffen. Jeder Einzelne musste gehört werden: »Zunächst erstaunte mich die Heftigkeit – und der Freimut –, mit denen Leute den Regenten kritisierten. Er war keineswegs über Kritik erhaben, vielmehr häufig die Zielscheibe von Kritik. … Aber mochte die Attacke auch noch so gefühlsbetont sein, der Regent hörte einfach zu, ohne seinerseits irgendeine Emotion zu zeigen. Die Zusammenkünfte dauerten so lange, bis irgendeine Art von Konsens erreicht worden war. Erst am Ende des Meetings, wenn die Sonne im Untergehen begriffen war, sprach der Regent wieder, und er unternahm es, das zusammenzufassen, was gesagt worden war, und versuchte, zwischen den verschiedenen Meinungen einen Konsens herzustellen.« Zu jenem Streit um die Urteilsfindung gehörte am Ende eine bemerkenswerte Gegenbewegung: »Schließlich trug am Ende ein Lobsänger oder Poet einen Lobgesang auf die Könige alter Zeiten vor und eine Mischung aus Kompliment und Satire auf die gegenwärtigen Häuptlinge, und die Zuhörer, der Regent eingeschlossen, brüllten vor Lachen.« Das urpädagogische Gesetz vom notwendigen Pendelschlag zwischen existentieller Auseinandersetzung und sich selbst in Frage stellendem Humor ist hier beschrieben.
Wie tief Mandela jene Begegnungen seiner Kindheit in sich aufnahm, zeigte sich viele Jahre später in seinem Ringen um einen südafrikanischen Friedensprozess und in seiner Fähigkeit, auch bei Gegnern den Funken des Menschlichen wahrzunehmen: »Selbst in den schlimmsten Zeiten im Gefängnis, als meine Kameraden und ich an unsere Grenzen getrieben wurden, sah ich einen Schimmer von Humanität bei einem Wärter, vielleicht nur für eine Sekunde, doch das war genug, um mich wieder sicher zu machen und mich weiterleben zu lassen. Die Güte des Menschen ist wie eine Flamme, die zwar versteckt, aber nicht ausgelöscht werden kann.«
Innere Streitkultur
In der Übergangszeit zur Oberstufe kommt den beschriebenen Pendelbewegungen zwischen Innerem und Äußerem eine neue Fähigkeit des jungen Menschen entgegen: das erwachende eigenständige Denken. Darin liegt für Hannah Arendt die Entdeckung des Sokrates, dass das Denken nichts anderes sei als ein »stummes Zwiegespräch« mit sich selbst. Für sie setzt das Denken diesen Pendelschlag zwischen innerer Rede und Gegenrede in Gang, als Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst. Bezeichnen wir diese Qualität des Denkens als Fähigkeit, sich selbst in innerer Streitkultur zu widersprechen und nach Hannah Arendt »für seine Rede und sein Handeln Rechenschaft abzulegen«, kann es als Fundament gelten, aus innerer Freiheit sowohl in sich selbst als auch in der Welt für den Frieden zu wirken.
Literatur: N. Mandela: Der lange Weg zur Freiheit, Frankfurt 1997, S. 35 f. | A. Prinz: Hannah Ahrendt oder die Liebe zur Welt, Berlin 2012 S. 295 f. | H. Arendt: Vom Leben des Geistes, München 1998 |
Zum Autor: Claus-Peter Röh ist im Wechsel von der Leitung der Pädagogischen Sektion zur Allgemeinen Anthroposophischen Sektion am Goetheanum, Dornach.