Religion und Sozialkunde. Ein Experiment

Bernhard Exner

Sinkende Zahl an Kirchenmitgliedern

Diese Überlegung stützte sich auch auf folgende Tatsache: In etwa zehn Jahren wird mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland keiner der beiden christlichen Groß­kirchen mehr angehören (wenn die jetzige Entwicklung so weitergeht) und die Bevölkerungsanteile anderer »Weltanschauungsgruppen«, vor allem aber der Konfessionsfreien, werden wachsen. In den ostdeutschen Bundesländern zählen bereits 75 Prozent der Bevölkerung zu dieser Gruppe.

Sozialkunde in der Oberstufe soll unter anderem Interesse wecken für eine Beschäftigung mit den sich stetig wandelnden politisch-sozialen Zusammenhängen und die dafür notwendigen Kenntnisse vermitteln, damit die Jugendlichen handlungsfähig werden. Daher liegt es auf der Hand, sich dieser Entwicklung zu stellen. Die Vertreibung der muslimischen Rohingyas aus dem mehrheitlich buddhis­tischen Myanmar oder der Krieg sunnitischer gegen schiitische Kriegstruppen in Jemen – um nur zwei aktuelle Beispiele zu nennen –, geben diesem Thema eine globale Dimension.

Beginn der Epoche

Vor diesem Hintergrund befassten wir uns zunächst damit, was überhaupt die Kennzeichen einer Religion sind und welche Rolle Religion für die Gesellschaft spielt. Dann haben wir uns die Entwicklung vom Animismus über den Polytheismus zum Monotheismus angeschaut und sind hier der Arbeit von Yuval Noah Harari gefolgt, weil wir einen Bogen schlagen wollten zu seiner neuesten Arbeit. Doch davon am Ende mehr.

Ergänzt wurde dieser Einstieg mit einer Diskussionsrunde darüber, inwieweit Politiker oder weitere gesellschaftliche Gruppen das vermeintlich entstehende Vakuum, nämlich die abnehmende Bindekraft religiöser Werte für das Zusammenleben, mit ihrem Handeln und ihren Ideen füllen oder ergänzen können. Das Grundgesetz beginnt übrigens mit der Formulierung: »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott …«. Dies geschah auch vor dem Hintergrund des zunehmenden Synkretismus. Dadurch wurden die Schüler angeregt, sich mit dem eigenen Lebensentwurf auseinanderzusetzen, und zwar in Bezug zur Gesellschaft.

Perspektiven auf die Welt

Aufgrund der begrenzten Zeit haben wir uns dann mit den Leitvorstellungen des Protestantismus, des Islam, des Judentums und des Buddhismus beschäftigt, was sich schon als ambitioniertes Vorhaben herausstellte. Die Entstehung des Christentums hatten wir bereits in einer vorher gegebenen Epoche behandelt.

Die Schüler interessierten sich zunächst vor allem für die enge Verbindung von Kirche und Staat und wie die Situation heute aussieht. Für die meisten Schüler war die Trennung von Politik und Religion immer noch nicht weit genug gediehen. So schrieben mehrere Schüler: »Es müssen Religion und Politik strikt getrennt werden« und ergänzten das mit der Forderung: »Und untereinander sollen die verschiedenen Religionen in Frieden koexistieren«.

Die Darstellung der Lehren Luthers und der nachfolgenden Glaubenskriege führte zu Gesprächen darüber, welche Kriegsanlässe die Religion bietet und wie sich solche Eskalationen verhindern ließen. Die Schüler nannten aktuelle Beispiele, die für sie belegten, dass immer wieder auch heute die Religionen Anlass für gewaltsame Auseinandersetzungen seien. Welche Rolle die Religionen dann spielen sollten, kommt exemplarisch in der folgenden Aussage zum Ausdruck: »Sie sollten den Menschen das Wesen von Gleichheit und Brüderlichkeit zeigen, ohne den Weg hin zur Dominanz und Gewalt. Sie sollten den Menschen Kraft geben, ohne sie zu indoktrinieren.« Besonders wirkmächtig waren die Aufbereitung der Islamgeschichte und die Erzählung über Mohammed. Hier kamen im Zusammenhang mit dem Thema Migration auch die Ängste der Schüler zum Vorschein: »Wenn ich das Wort Religion höre, denke ich an verschleierte Menschen«, schrieb ein Schüler.

Wie bei den anderen besprochenen Religionen war es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Religionen neben den negativen Seiten auch immer eine positive Funktion haben – Botschaften wie Nächstenliebe, Gastfreundschaft oder Toleranz. An ausgewählten Suren haben wir dies im Sinne klassischer Quellenarbeit herausgearbeitet. Die Schüler waren überrascht, dass neben dem Koran die Hadithe eine wesentliche Rolle spielen. Aufgrund der aktuellen politischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten besprachen wir dann auch Themen wie Salafismus, den Wahhabismus in Saudi-Arabien und die Bedeutung des Kalifats, damit die Schüler die Veränderungen der politisch-sozialen Zusammenhänge einordnen konnten. Die Schüler suchen nach Antworten, wie sie sich in einer globalisierten Welt zurechtfinden können. Wenn aber Religionen auf der einen Seite an Kraft verlieren oder auf der anderen Seite als Bedrohung wahrgenommen werden, woher kommen dann Antworten für die Schüler? Auf welcher Wertebasis wäre die Gesellschaft organisierbar? Am Ende der Epoche haben wir dann genau diese Fragen aufgegriffen und in dem Ansatz des Projektes »Weltethos« eine Möglichkeit besprochen.

Viele Religionen haben sich im Laufe der Zeit ausdifferenziert. Dies führte in unserer Epoche immer wieder zu Diskussionen, wie eine Religion glaubwürdig sein könne, wenn es so viele unterschiedliche Zugänge zu der von ihr beanspruchten Wahrheit gebe. Deutlich wurde dies beim Buddhismus, als wir über Hinayana (Kleines Fahrzeug) und Mahayana (Großes Fahrzeug) bis hin zum Zen die Entwicklung dieser Religion verfolgten.

Besuch in den Gemeinden

Wichtig für den Ablauf der Epoche war, dass wir den Unterricht mit Besuchen in den Religionsgemeinden verknüpft haben, um dort Eindrücke aus erster Hand zu erhalten. So konnten die Schüler alle Fragen, die ihnen wichtig waren, direkt mit den Glaubensvertretern ansprechen. Solche Erfahrungen bieten den Schülern die Möglichkeit, die vielleicht oft als abstrakt erlebten Zusammenhänge in den lebensvollen Aspekten zwischenmenschlicher Beziehungen zu erfahren und zu reflektieren.

Ein gutes Beispiel hierfür war der Besuch in einer evangelischen Kirche. Jeder Schüler bekam dort jeweils eine Karte mit einem Fragezeichen und einem Ausrufezeichen. Sie konnten die Kirche entdecken und die Karten dort verteilen, wo sie etwas nicht verstanden und etwas ansprechen wollten (mit dem Fragezeichen) und wo sie etwas besonders beeindruckt hatte (mit dem Ausrufezeichen). Der Pastor erklärte dann anschließend alle Punkte. Ähnlich aufschlussreich war für die Schüler der Termin in der jüdischen Gemeinde in Erfurt. Dort wurden ihnen vom Rabbiner die religiösen Bräuche und die Entwicklung der Gemeinde vom Zweiten Weltkrieg bis heute erläutert. Ein weiteres Beispiel: Beim Besuch des Imams hatten wir vereinbart, dass die Schülerinnen zusammen mit den Schülern in einem Raum am Mittagsgebet teilnehmen dürfen, was normalerweise dort nicht möglich ist. Zusätzlich bat der Imam darum, dass die Schülerinnen eine Kopfbedeckung tragen sollten. Die ganze Klasse erlebte zum ersten Mal ein Gebet in einem Moscheeraum. Anschließend beantwortete der Imam die Fragen, die von der Rolle der Frau bis zur Verbindung von Politik und Religion gingen, also auch sehr viele Punkte des Alltags berührten.

Beeindruckt waren die Schüler auch vom Besuch in einer buddhistischen Gemeinde, da der Ablauf einer Gebetszeremonie und das Menschenbild sie besonders ansprach. Wichtig war hier im Anschluss der Vergleich der Menschenbilder der verschiedenen Religionen, da so die Urteilskraft herausgefordert wurde, aber auch die Bedeutung dieser Vorstellungen für die Gesellschaftsentwicklung deutlich wurde.

Vorgespräche und Erwartungshaltung

Wichtig für den Erfolg der Epoche war die Vernetzung des Unterrichtes mit den Besuchen in den Gemeinden. Dabei ist der Aufwand zur Realisierung einer solchen Epoche nicht zu unterschätzen. Zum einen muss entschieden werden, welche Religionen man auch vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen auswählt. Zum anderen gibt es einen erheblichen Organisationsaufwand, da im Vorfeld die jeweiligen Gemeindevertreter besucht werden müssen, um in den Vorgesprächen eine gemeinsame Erwartungshaltung zu entwickeln. Zusätzlich müssen die Stundenpläne für die Tage, an denen man nicht in der Schule ist, neu geplant werden. Vor dem Besuch einer Moschee empfiehltes es sich, zu prüfen, um welche Art von Gemeinde (mit politischen Ambitionen oder nicht) es sich handelt, denn schließlich müssen wir als Lehrer letztlich den Eltern Rede und Antwort stehen können.

Verstehen schafft Perspektive

Wenn man das Wagnis eingeht, eine Sozialkunde-Epoche mit einer religiösen Thematik zu verbinden, dann wird man zunächst aushalten müssen, dass nicht alle Schüler beim Thema Religion dem Lehrer begeistert folgen. Die Schüler verstehen aber schnell, dass mit den Religionen ein Türöffner für die Fragestellung genutzt wird, wie wir ein gutes und konstruktives Zusammenleben organisieren, welche Grundwerte wir dafür benötigen und woher diese kommen – gerade auch vor dem Hintergrund des enormen gesellschaftlichen Wandels. Wie kann sich ein Grundkonsens über Werte und Normen in der Gesellschaft (weiter)entwickeln, wenn eine Quelle, nämlich die Religion, an Prägekraft verliert? Genau dies interessierte die Jugendlichen in dieser Epoche.

Vor diesem Hintergrund haben wir die Epoche abgeschlossen mit der Thematisierung eines Zukunftsszenarios der Entwicklung des Menschen hin zum Homo Deus, wie es der eingangs erwähnte Wissenschaftler Harari beschreibt. Besonders aufgeschlossen waren die Schüler schließlich für die Perspektive eines Weltethos, wie es vom Theologen Hans Küng beschrieben wird. Nach dessen Arbeiten sind allen Weltreligionen bereits grundlegende Wertevorstellungen gemein, wie die »Goldene Regel« beispielhaft zeige.

Danach existiere ein gemeinsamer Kanon, der nur immer wieder neu bewusst gemacht und gelebt werden müsse. Und hier kommt es eben auf jeden einzelnen an. Die Schüler erhielten so einen Impuls, die Welt zu ergreifen. Und sie sahen, dass es selbst dann, wenn die Religion keine persönliche Perspektive bietet, Antworten gibt, die nicht nur für einen selbst von Bedeutung sind, sondern auch als Grundlage für die Weiterentwicklung des sozialen Miteinanders dienen könnten.

Erkenntnis und Ausblick

Die durchgeführte Epoche zeigt, dass das Experiment der Verbindung von religiösen Inhalten mit sozialkundlichem Anliegen gelingen kann, da dieser Ansatz die Schüler in der 11. und 12. Klasse auf ihrer Suche nach dem Wesentlichen und dem Authentischen in der Welt unterstützt. Und wenn dies unter Einbezug der lokalen und globalen politischen Situation geschieht, dann kann dies ein Beitrag sein zur Ausbildung eines reflexiv-überblickenden Urteilsvermögens der Schüler in dieser Altersstufe.

Ergänzt werden kann dies in einem weiteren Schritt durch die fächerübergreifende Integration von Unterrichtsansätzen aus dem Deutsch- und Geschichtsunterricht, um dem Bedürfnis der Schüler nach dem Großen und Ganzen, dem Überblick, weiter entgegenzukommen.

Die Rückmeldungen der Schüler legen zumindest den Schluss nahe, dass der verfolgte Ansatz auf fruchtbarem Boden gefallen ist. So schrieben sie: »Ich finde es auf jeden Fall interessant, andere Religionen kennen zu lernen, also was man da darf und was nicht.« Oder: »Mir persönlich hat es weitergeholfen, die Menschen und ihre Einstellungen jetzt ein Stück weit mehr akzeptieren zu können.« Und: »Man sollte auch die anderen Religionen akzeptieren und zu einer Gemeinschaft und Zusammenarbeit finden.« ‹›

Zum Autor: Dr. Bernhard Exner ist Lehrer für Deutsch, Geschichte und Sozialkunde an der Freien Waldorfschule Eisenach.

Literatur: T. Ungefug: Perspektiven der Sozialkunde, Kassel 2017; Y. N. Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit, München 2015; Y. N. Harari: Homo Deus, München 2017; H. Küng: Spurensuche. Die Weltreligionen auf dem Weg, München 1999; H. Küng: Projekt Weltethos, München 1993