Erziehungskunst | Was bedeutet Resilienz? Wo kommt der Begriff her und warum ist er für das Verständnis unserer Gesundheit wichtig?
Martin Straube | Das Wort »Resilienz« ist eigentlich falsch gewählt. Es kommt aus der Technik und bezeichnet hochelastische Materialien, die nach Verformungen ihre ursprüngliche Form wieder annehmen. Übertragen auf den Menschen hat man es mit der »Stehaufmännchen«-Eigenschaft gleichgesetzt, dass Menschen aus einer Krise herauskommen und dann so sind, wie zuvor. Aber wer eine Krise durchlitten hat, bringt Erfahrungen mit, die Menschen, die nie eine Krise hatten, nicht erwerben konnten. Sie kehren also nicht in den vorherigen Zustand zurück, sondern treten in einen gereifteren ein.
Wer die Kraft in sich trägt, Widerstände, Krisen und Konflikte zu überwinden, die Ärmel aufzukrempeln, statt den Kopf in den Sand zu stecken, wird auch gesundheitliche Krisen besser überwinden. Hier scheint es sich um innere Kräfte zu handeln, die mit unserer Vitalität zu tun haben.
Die bekannteste Untersuchung zu dem Thema war die Kauai-Studie, bei der 698 Kinder, die im Jahr 1955 auf der Insel Kauai geboren waren, 40 Jahre lang begleitet wurden. Ein Drittel dieser Kinder hatte schwere Bedingungen für eine gesunde Entwicklung, wegen Armut, psychischer Erkrankungen oder Drogensucht der Eltern. Von diesem Drittel war es wiederum ein Drittel, das trotz widrigster Umstände gut gedieh. Mit 40 Jahren war es gesünder, hatte eine geringere Todesrate als alle anderen Probanden, kurz, es war »resilienter«. Die Faktoren, die dazu geführt haben, werden allerdings unterschiedlich gedeutet.
EK | Wie bildet sich Resilienz? Ist sie »angeboren« oder wird sie individuell erworben?
MS | Sicher gibt es angeborene Stärken. Aber viel entscheidender sind die kindlichen Erfahrungen: Dass es sich lohnt, Krisen und Konflikte anzugehen, dabei Hilfe und Vorbilder zu haben, auf Ressourcen zugreifen zu können, Anerkennung für Erreichtes zu erhalten und selbstbestimmt zu leben. Denn nur durch erlebte Selbstbestimmung entsteht Erfahrung von Selbstwirksamkeit, und nur dann können wir ein Vertrauen auf unsere Selbstbestimmung aufbauen. Kinder vermögen Selbstvertrauen nur zu entwickeln, wenn die Erwachsenen ihnen vertrauen.
Zentrale Faktoren sind u.a. die Akzeptanz der Bedingungen, der flexible Umgang mit ihnen, das Vermeiden der Opferrolle, Selbstverantwortung für sich und sein Leben, soziale Bindungen, eine optimistische Transformationsbereitschaft und Spiritualität.
EK | Wie wirken sich digitale Medien auf den Erwerb von Resilienz aus?
MS | Ich glaube nicht, dass man das allgemein beantworten kann. Es hängt davon ab, in welchem Alter man digitale Medien zu nutzen beginnt, wie passiv man dabei ist oder ob man diese Medien vorwiegend als Werkzeug erfährt, um das zu erreichen, was man erreichen möchte. Wenn wir sie also nicht nur dazu benutzen, um in fiktive Welten zu flüchten, die uns von der Wirklichkeit entfremden, sondern als Werkzeuge, um die Wirklichkeit besser zu verstehen und zu handhaben.
Was die Medien aus Holly- oder Bollywood anbieten, sind meist untaugliche Vorbilder von Helden mit einer unrealistischen Teflonbeschichtung, eine völlig lebensferne Unterscheidung von Gut und Böse, wobei die Guten meist schön, die bösen oft hässlich und von Anfang an schon durch das Aussehen zu erkennen sind. Wirkliche Wandlung und Entwicklung ist selten zu sehen, außer es sind kitschige Streifen nach dem Motto »vom Tellerwäscher zum Millionär«. Es gibt auch andere Filme, die aber meist von Kindern und Jugendlichen nicht goutiert werden.
Dazu kommt, dass meist nur das Produkt (Film oder Spiel), nicht aber das Gerät, das Medium (PC, Tablet, Handy oder Laptop) zum Erlebnis wird.
Wir brauchen ein Curriculum, das nicht nur beibringt, wie ein Schreibprogramm, eine Tabellenkalkulation oder ein E-Mail-Programm gehandhabt wird, sondern auch begreifbar macht, wie das Gerät, das Medium selber funktioniert, wie die zugrundeliegende Technik funktioniert, welche Fallen im Netz gestellt werden und wie es z.B. zum Verlust von Privatheit kommt. Würde ein solches Curriculum in für die einzelnen Altersgruppen angemessenen Schritten umgesetzt, könnte es zur Resilienz beitragen.
EK | Gibt es eine kulturell erworbene Resilienz? Können Kinder heute besser mit digitalen Medien umgehen, als es beispielsweise Kinder vor 20 Jahren gekonnt hätten?
MS | Diese Frage ist schwer zu beantworten, zumal die Technik von heute eine andere ist als vor 20 Jahren. Einerseits hat das Verführungspotential durch die virtuellen Welten ungemein zugenommen, was die Resilienzentwicklung enorm gefährden kann. Andererseits bieten digitale Techniken ungeahnte Möglichkeiten der Kommunikation, der Kreativität, der Recherche, der Strukturierung und der Entlastung von zeitraubenden Routinetätigkeiten. Auch das ist eine Frage des Alters und der Zielsetzung.
EK | Wie kann Bildung Resilienz fördern und mitentwickeln?
MS | Durch die Klassiker: Wertschätzung, Vertrauen in das Potential der Kinder, zuverlässige, anerkennende Beziehungen, Emotionsregulation (z.B. Koregulation durch das Vorbild der Hauptbezugspersonen), Transparenz und Partizipation, Kreativität und lobende Reflexion von Entwicklungsschritten und Erfolgen, durch Stärkung und Förderung der Selbstwirksamkeit.
Bildung kann Entwicklungsförderung sein. Nehmen wir das Beispiel Rubikon, also die Phase des 9./10. Lebensjahres. Kinder ziehen sich zurück, haben Geheimnisse, die sie nicht mehr mit uns teilen wollen. In dieser Phase könnte die Hausbau-Epoche das Signal geben, ich nehme dein Bedürfnis wahr und biete dir eine dazu passende Kulturtechnik an. Aus diesem Rückzug heraus kommen ja dann die teils unter die Haut gehenden Fragen, ob man nicht auf der Geburtsstation verwechselt wurde oder gar von fahrenden Leuten im Körbchen vor der Haustür abgelegt wurde. Diese Fragen zielen darauf, wie das Verhältnis zu den Eltern wirklich ist. Nähe und Distanz, die zentralen sozialen Wahrnehmungen, werden daran erprobt und die soziale Umgebung danach eingeteilt. Jetzt würde das Bruchrechnen wieder das Anliegen validieren, also ernst nehmen und durch das Bildungsangebot unterstützen. Dann stabilisiert sich das rhythmische System. Jetzt kommt das Kanonsingen, indem die aufkeimende Fähigkeit aufgegriffen und gefördert wird. Alles das kann nicht oder wenn, dann nur zufällig gelingen, wenn der Epochenplan in den Sommerferien erstellt und nicht an den Kindern abgelesen wird, wann was nötig ist. Sonst ist es »Bildung«. Aber es am Kind abzulesen wäre »Erziehungskunst«, die heute nötiger ist, als 1919 zur Zeit der Gründung der ersten Waldorfschule.
EK | Welcher Sozialraum, z.B. an Schulen, stärkt die Resilienz des Kindes?
MS | Als ehemaliger Waldorfschüler möchte ich behaupten, dass der stabile soziale Kontext nicht genügend gewürdigt wird. Acht Jahre denselben Klassenlehrer zu haben, von der ersten Klasse bis zum Abschluss Teil einer im Kern konstanten Gruppe zu sein, gemeinsam Konflikte zu durchleben, gemeinsam erfolgreich zu sein, zueinander zu halten, sich gegenseitig zu unterstützen, zu erleben, dass die »Schwachen« wunderbare Seiten haben, dass die Unsympathischen genial, die Sympathischen vielleicht faul, die »besten Freunde« vielleicht unzuverlässig sind. Probleme lösen sich durch Austausch der Lerngruppen oder Sitzenbleiben, durch die Auflösung der Klassengemeinschaft am Ende der Grundschulzeit oder den Wechsel der Lehrer nicht in nichts auf. Ich z.B. habe extrem unter meinem Klassenlehrer der ersten acht Jahre gelitten. Aber es ist gelungen, am Ende der acht Jahre ein gutes Verhältnis zu ihm zu entwickeln. Es war vielleicht einer der größten Lernschritte in meiner Schulzeit ...
EK | Was können aus Ihrer Sicht die Kollegien heute – in Corona-Zeiten – tun, um die soziale Resilienz an Schulen zu stärken?
MS | Ich glaube, dass das Kollegium ausstrahlen sollte: »Wenn schon Mist, dann
Optimist.« Es geht darum, dass Kinder erleben, der Lehrer glaubt an mich, er steht mir zur Seite. Es geht immer um Kontakt, Aufrechterhaltung oder sogar Vertiefung der menschlichen Begegnung, des Interesses am Anderen, um die immerwährende Frage: Wer bist du? Mit »immerwährend« meine ich, dass man das Wichtigste ausschließt, wenn man glaubt, eine Antwort zu haben: die Entwicklung, die Veränderung, die Wandlung, eben das Allerheiligste.
EK | Wenn in Zukunft der Erwerb von Resilienz ins Zentrum des Bildungsauftrages rücken würde, wie müsste sich Bildung insgesamt, auch Waldorfschulen verändern?
MS | Dem, was passieren sollte, stehen viele Widerstände entgegen, insbesondere die Leistungsanforderungen. Wir sehen doch heute, dass auch an Waldorfschulen der Fokus darauf liegt, dass die Kinder am Ende des Tages, der Epoche, des Schuljahres oder der Schulzeit dieses und jenes gelernt haben sollten. Wie verschleiert auch immer liegt der Fokus auf dem Output. Ich bin fest davon überzeugt, dass er immer mehr auf die Beziehung zwischen Lehrer und Kind, auf die Beziehungen der Kinder untereinander gelegt werden muss. Es geht darum, Konflikte zu überwinden, sich in einer Sache, einer Aufgabe, einem Projekt zusammenzufinden, trotz aller Antipathien und sonstiger Widrigkeiten.
Denn das Erleben tragfähiger, belastbarer und zu gemeinsamen Entwicklungen fähiger Gemeinschaften ist einer der stärksten Resilienzfaktoren. Das ist eben nicht Kuschelpädagogik. Das wäre ein Ernstnehmen der Lebenswirklichkeit.
Die Künste sollten einen gebührenden Stellenwert bekommen und nicht als ein Anhängsel empfunden werden. Sie sollten so vermittelt werden, dass die Schüler nie das Empfinden bekommen, dass es sich um unwichtige Ausruhfächer neben den wichtigen Mathe- und Englischstunden handelt. Denn vielleicht ist Kunst das Resilienteste. Neues schaffen, Nie-Dagewesenes gestalten mit Kopf, Herz und Hand, sich mit Haut und Haaren auf einen Prozess einzulassen. Genau das ist Resilienz.
Die Fragen stellten Matthias Niedermann und Mathias Maurer