Retro ist nicht genug

Hartwig Schiller

Sicher: Das kann nicht geschehen, ohne das Vergangene zu kennen und es erkennend – auch verstehend – zu verarbeiten. Zu oft werden Vergangenheit und Zukunft als unvermittelbare Gegenpole behandelt. Das wäre so, als wollte man die Biographie eines Menschen verstehen, ohne Kindheit und Alter, Geburt und Tod im Zusammenhang zu sehen. Allerdings ist ein zwischen Vergangenheit und Zukunft vermittelndes Erkennen und Verstehen ein schwieriges und komplexes Unterfangen. Einzelheiten zu bemerken, fällt leichter.

In der Entwicklung eines Kindes kann Zukunft dadurch verhindert werden, dass seine Lebensbahn zu früh bestimmt und festgelegt wird. Karriereziele, Ehrgeiz und Einseitigkeiten können Eiskanäle errichten, in denen das Lebensgefährt auf vorgeschriebener Bahn, der Schwerkraft folgend, entlangsaust. Das entspricht den fehlgeleiteten Wegen einer Zukunftsgestaltung, die als »Zukunftsplanung« betrieben wird und in Wirklichkeit nichts anderes als eine hochgerechnete Vergangenheit ist.

Von Zukunft wird viel gesprochen, sie wird geradezu ersehnt. Meistens ist damit jedoch nur eine Garantie für dauernde Existenz gemeint. Das Leben jedoch ist ein fortwährendes Wagnis.

Ein ähnlich problematisches Verhältnis besteht zum Vergangenen. Es spielt da etwas hinein, das mildtätig ist und etwas Tröstendes hat. Ein geflügeltes Wort spricht von der »Zeit, die alle Wunden heilt«. Vergangenes verklärt sich, das Zurückliegende erscheint in einem freundlicheren Licht. Ohne solch tröstende Momente wäre das Leben oftmals kaum zu ertragen.

Zugleich ist damit jedoch eine Gefahr verbunden. Wird die verklärende Tendenz nicht genügend deutlich identifiziert und zu bequem genossen, entsteht die Versuchung, im Vergangenen zu verweilen, das Erlebte zu überheben und in sentimentale Nostalgie zu versinken. Dazu kommt die Partei der Vergangenheitsseligen, die das Alte, Beglückende bewahren will und es litaneihaft wiederholt. Beide finden nicht zu sich selbst, nicht zu ihren Aufgaben und nicht zur Zukunft. Denn die Zukunft kann sich nur dem Augenblick ergeben. Wir müssen jetzt und in uns – ausschließlich im Jetzt – unsere Würde, unsere Lösungen, unsere Entscheidungen finden.

Die Flucht ins Psychologisieren

Zwei Themen stehen für Rudolf Steiner im Vordergrund unserer Gegenwart: Der allgegenwärtige Materialismus, der von einer anfänglichen Ideologie zu einer allgemeinen, alltäglichen Haltung geworden ist, und die Angst vor dem Geistigen, die sich lieber ins Psychologisieren und Spekulieren über »das Unbewusste« flüchtet, als durch denkende Erkenntnisarbeit sichere Erfahrungsgrundlagen des Geistigen zu erarbeiten. Der alltägliche Materialismus und ignorierte Geistesgrund haben ein unseliges Geschwister. Das ist der gedankenlos herrschende Nominalismus, jene Doktrin, die meint, dass wir Dinge nur benennen, letztlich aber nicht wirklich erkennen können. Dadurch erscheint jeder Weltbezug beliebig und illusionär. In älteren Zeiten hießen die Schuster Herr und Frau Schuster, die Schuhmacher Schuhmacher und die Fischer Fischer. Name und Wesensoffenbarung wurden als eins empfunden.

Die materialistische Anschauungsweise verneint die Wahrnehmung des dem äußeren Blick verborgenen Wesenhaften. Für den wesenserfüllten Blick ist ein sich selbst inne seiendes Denken, ein geistiges Erschließen von Entwicklung, Vollzügen und Zusammenhängen notwendig. Wir müssen den Herzog im Herzog entdecken. Dabei weiß geistig anschauendes Denken um seinen Wirklichkeitsgehalt und schafft einen lebendigen Realismus im Vollzug. Es entdeckt den Kern in der Schale, oder besser: Es entdeckt das Kernhafte in allen Schichten des Schalenhaften. Innen und Außen sind eins. Der Name wird zum Bild des Wesens. Er bleibt nicht Nomenklatur der Beliebigkeit.

Was philosophisch abstrakt klingt, kann real werden in jeder Begegnung – ob mit Mensch, Stein, Pflanze oder Tier. Aus der äußeren Bilderwelt wird ein physiognomisches Erkennen, in dem Sein und Erscheinung zu einer Imagination verschmelzen.

Wenn ich erkenne, kann ich lieben

Aus einer anderen Schicht persönlicher Existenz drängen sich Voreingenommenheiten in die Weltbegegnung. Sie äußern sich als unreflektierte Vorlieben und Abneigungen. Das Fühlen nicht zum Zerrspiegel persönlicher Deformation, sondern zum Seismographen eines anderen Seins werden zu lassen, erschließt unbekannte Welten. Sie verwandeln das Selbstgefühl zu echtem Mitfühlen. Dahin führt ein stetiger Übungsweg, dessen Wegmarken Aufmerksamkeit, Behutsamkeit, Ausgeglichenheit und Offenheit heißen.

Selbst der Wille kann zum Erkenntnisinstrument werden. Das geschieht in jedem Engagement aus selbstloser Verpflichtung und führt zum Erleben der Parzival-Frage: »Oheim, was tut dir not?« Die Konsequenzen dieses Wirklichkeitsbezuges sind immens. Wen ich erkenne, den kann ich zu lieben beginnen. Wen ich erkennend liebe, gegen den erhebe ich nicht meine Hand. Das ist der eigentliche Nukleus des Friedens. Erkennen und Verhalten verschmelzen zu einer Frieden stiftenden Einheit. Wo zwei in diesem Namen beieinander sind, ist der Geist der Liebe mitten unter ihnen. Kriege werden auch durch den kalten Blick geführt. Sie toben in Wissenschaft, Sozialgestaltung, dem Verhältnis zur Schöpfung, auf künstlerischem Feld, im religiösen Leben und anderswo. Ihren Ausdruck finden sie in menschenverbiegender Erziehung, minderwertiger Ernährung, Entfremdung, Umweltzerstörung und allgegenwärtiger Manipulation.

Überall da gibt es aber auch aus Anthroposophie erwachsene Friedensimpulse. Pädagogik, Landwirtschaft, Medizin, Sozialpädagogik, Soziale Dreigliederung, Naturwissenschaft und Kunst zeigen beispielhafte Kulturprojekte. Heute, nach hundert Jahren, ist es an der Zeit, sich ihrer Grundlagen bewusst zu werden. Daraus kann eine friedliche Zukunft erwachsen.

Zum Autor: Hartwig Schiller ist Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland.

Hinweis: Unter dem Titel »Impuls Frieden – Kulturarbeit Anthroposophie« findet vom 19. – 21. Juni 2015 zu diesem Thema die Mitgliedertagung der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland im Anthroposophischen Zentrum in Kassel statt; mit Friedrich Glasl, Constanza Kaliks, Michael Zech, Stefanie Allon, Peter Guttenhöfer, Johannes Denger, Gioia Falk u.a.