Rettet die Bildung! Zehn Thesen zur Schule der Zukunft

Henning Kullak-Ublick

1. Lasst den Kindern Zeit!

Alles, was reifen soll, braucht seine Zeit. Entwicklung besteht nicht in rasendem Turbolernen, sondern in allmählichem Wachsen und Reifen. Jedes Kind lernt nach seiner eigenen Zeit. Kinder müssen Erfahrungen und Erlebnisse sammeln, diese verdauen und verarbeiten. Die Seele muss reifen. Nur das, womit wir uns erlebend verbinden, bleibt haften. Die Persönlichkeit kann sich nur entwickeln, wenn sie in die Welt in ihrer ganzen Fülle eintaucht. Die Schule der Zukunft nimmt den Weg zum Ziel genauso ernst wie das Ziel selbst. In der Schule der Zukunft wird Zeit nicht verschwendet, sondern sinnvoll gestaltet.

2. Bringt Schwung in die Schule!

Schule soll gesund, nicht krank machen. Schüler und Lehrer verbringen einen großen Teil ihres Lebens in ihr. Schulen brauchen Rhythmus, einen schwungvollen Wechsel von Einatmen und Ausatmen. Einatmen heißt: den Stoff in sich aufnehmen. Ausatmen: das Gelernte individuell zum Ausdruck bringen. Dieser Rhythmus gibt Kraft,er erfrischt und schafft Räume des Erlebens. Die Schule der Zukunft nimmt auf die Rhythmen des Lebens und Lernens Rücksicht: sie gliedert die Stunden, Tage, Wochen, Jahre im Rhythmus von Vertiefung und Erweiterung, Bewegung und Ruhe, Erinnern und Vergessen.

3. Leistung macht Freude!

Jeder Mensch will etwas leisten. Ein Kind, das laufen lernt, freut sich über jeden gelungenen Schritt. Wenn uns etwas gelingt, freuen wir uns. Leistung macht Freude. Wir dürfen die Freude an der Leistung dem Kind nicht in der Schule austreiben. Geben wir den Kindern Gelegenheiten, sich anzustrengen, an Herausforderungen zu wachsen. Lassen wir sie sinnvolle Dinge tun, Dinge, die ihren Wert in sich tragen. Nicht auf Noten kommt es an, sondern auf Können. Die Schule der Zukunft fordert die Schülerinnen und Schüler – praktisch künstlerisch und geistig. Leistung will gesehen, nicht gemessen werden. Sie trägt ihren Wert in sich selbst. Deshalb wird die Schule der Zukunft eine inklusive Pädagogik ermöglichen.

4. Gebt den Kindern Bilder!

Am Anfang jeder Erkenntnis steht das Staunen, das Rätsel, an ihrem Ende ein Begriff. Lebendiges Lernen lässt aus Fragen Erkenntnisse wachsen. Deshalb brauchen Kinder Märchen und Geschichten, die sie über die Welt staunen lassen. Nur was Bewunderung erregt, regt zum Denken an. Was uns kalt lässt, daran gehen wir ohne Interesse vorüber. In Bildern und Geschichten eignen sich Kinder die Welt an. Durch Bilder und Geschichten lernen sie, eigene innere Bilder zu schaffen und durch Bilder gelangen sie zu Einsichten. Bilder sind Seelennahrung. Nicht fertige Urteile sollen wir den Kindern vermitteln, sondern ein bewegliches, an lebendigen Bildern geschultes Denken. Die Schule der Zukunft wird nicht nur den Intellekt der Kinder, sondern auch ihr Gemüt, ihre Herzenskräfte, ihre ganze Persönlichkeit fördern. Durch Bilder und Vorbilder wird sie ihre Schüler und Schülerinnen dazu anregen, eigene Vorstellungen und Urteile zu bilden, ihre moralische Urteilsfähigkeit stärken und sie dazu befähigen, Vorbild zu sein.

5. Prüfungen: Ja! Selektion: Nein!

Kinder brauchen Prüfungen, damit sie Erfahrungen im Meistern von Herausforderungen machen und sich selbst besser erkennen. Prüfungen sind Meilensteine – keine Stolpersteine. Was Kinder nicht brauchen, sind Prüfungen, die nur abfragen, was sie nicht können, die sie in Gewinner und Verlierer aufteilen, in solche, die weiterkommen, und solche, die sitzen bleiben. Durch Prüfungen sollen die Kinder ihr Können vergrößern, niemals aber gedemütigt werden. Die Schule der Zukunft wird Prüfungen in den Alltag einbauen – als Abenteuer, als Selbsterfahrung, als Herausforderung, sie wird Prüfungen nicht mehr als Mittel der Selektion missbrauchen, sondern als Mittel der Persönlichkeitsbildung nutzen.

6. Kinder sind Weltbürger!

Kinder sind geborene Weltbürger. Treiben wir ihnen in der Schule den Kosmopolitismus nicht aus. Das Verständnis fremder Kulturen gehört in jede Schule. Erzählungen, Mythen und Legenden, Folklore, Musik und Dichtung sind es, die der Geographie, der Geschichte und Ökonomie ein menschheitliches Antlitz verleihen. Wer mit einer anderen Kultur getanzt und gesungen hat, wird sie nicht bekämpfen. Die Schule der Zukunft ist eine interkulturelle und integrative Schule. Die Beschäftigung mit fremden Kulturen gehört zum Schulalltag, so wie die »Fremden« zu unserem Lebensalltag gehören.

7. Nur wer die Welt liebt, kann sie schützen!

Die Umweltkrise ist eine Bewusstseinskrise. Unsere Zeit leidet an einem Naturdefizit-Syndrom. Kinder müssen Blumen, Bäume, Käfer, Schafe, Vögel, Steine, Wolken, Bäche und Äcker kennen und lieben lernen. Sie dürfen mit all ihren Sinnen, mit Kopf, Herz und Hand grundlegende Erfahrungen in der Natur sammeln. Nur was man kennt, kann man schätzen und lieben. Nur was man schätzt und liebt, kann man erkennen und schützen. Aus der Naturerfahrung wächst die Naturverantwortung. Die Schule der Zukunft legt vom ersten Schuljahr an Wert darauf, ihren Schülern und Schülerinnen durch praktische Arbeit und ein ökologisch gestaltetes Schulgelände ein lebendiges Naturverständnis nahe zu bringen.

8. Medienkompetenz oder: Rettet die Sprache!

Medienkompetenz ist eine der zentralen pädagogischen Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft. Das Wissen um die Funktionsweisen der neuen Medien sollte nach der Pubertät eine Selbstverständlichkeit werden. Die größere Herausforderung besteht darin, die Schule zu einem Erfahrungs- und Lernort für die ganze Vielfalt an Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten mit anderen Menschen und ihrer natürlichen und kulturellen Umwelt zu machen. Musik, die bildenden Künste und Bewegung sind dabei entscheidende Hilfen. Eine besondere Rolle kommt der Sprache zu, deren Pflege eine notwendige Voraussetzung für ein differenziertes und individuelles Denken ist. Die Schule der Zukunft übt die Medienkompetenz durch einen erweiterten Medienbegriff, der den Mensch als handelndes Subjekt wieder in den Mittelpunkt rückt.

9. Lehrer brauchen Freiheit, Eltern auch!

Lehrer sollten immer unterwegs sein und mindestens so viel von den Kindern lernen, wie diese von ihnen. Ihre Begeisterung muss mit der Berufserfahrung wachsen dürfen und nicht verkümmern. Je umfassender und vielfältiger sie ihre Persönlichkeit ausbilden, um so anregender sind sie für ihre Schüler. Zur voll ausgebildeten Persönlichkeit gehört auch Freiheit und Selbstbestimmung. Lehrer können keine Befehlsempfänger sein, sie müssen vorleben, wie man als mündiger Bürger Verantwortung aus Selbstbestimmung übernimmt. Deshalb müssen Lehrer frei in ihrer Unterrichtsgestaltung sein und ihre Schulen unabhängig von Bürokratien entwickeln können. Auch Eltern müssen frei sein, für ihre Kinder die Schule zu wählen, die sie für die beste halten. Ein fairer Wettbewerb um gute pädagogische Konzepte kann nur funktionieren, wenn Schulen in staatlicher und freier Trägerschaft gleichberechtigt nebeneinander stehen, denn nur dann haben alle Eltern eine Wahl. Gleiches Recht schließt gleiche wirtschaftliche Bedingungen ein. Staatliche Benachteiligung freier Schulen widerspricht der Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit. Die Schule der Zukunft wird durch den Bildungsgutschein für alle finanziert.

10. Lehrer-Bildung ist Künstler-Bildung!

Lehrer dürfen Welt-Entdecker sein, denn mit Welt-Entdeckern arbeiten sie. Wenn sie schöpferisch sind, regen sie die Kinder an, ihr eigenes schöpferisches Potenzial zu entfalten. Wenn sie begeistert sind, begeistern sie auch andere. Neue Räume kann nur erschließen, wer ungesichertes Terrain betritt. Das Lernen kann nur lehren, wer selber lernt und das Lernen als Kunst versteht. Die Lehrerbildung der Zukunft ist weit mehr als eine Fachausbildung – sie ist ein Weg zur Selbsterziehung. Die Schule der Zukunft braucht eine neue Lehrerbildung, eine Lehrerbildung, die kreative Persönlichkeiten bildet, keine Fachidioten. Die Lehrer der Zukunft verbinden wissenschaftliche Reflexion mit Künstlertum, praktisches und soziales Können mit Lebensweisheit.