Das Einzelne im Ganzen erleben. Vorschläge zur Verbesserung der Oberstufe

Hans Hutzel

Ich frage mich, wie wir diese so gestalten können, dass wir statt des von außen aufgedrungenen Prüfungskorsetts ein inneres Skelett ausbilden. Eine Stabilität von innen, die für unsere Schüler und für uns Kollegen erfahrbar und handlungsleitend wird. Nur dann kommen wir aus dem Hecheln heraus, gewinnen Atem und die Prüfungen sind nicht Stolpersteine, sondern Meilensteine, an denen die Schüler sich auf ihrem Weg zu einer zeitgemäßen Welt-Bewältigung orientieren können. Denn wir wollen keine Schule abseits der gesellschaftlichen Realität sein, wir wollen einen Kulturimpuls innerhalb einer konkreten Lebenswelt setzen. Kein Mensch ist eine Insel.

Wie also muss eine waldorfpädagogische Oberstufe gestaltet sein, dass sie Schüler, Eltern und Lehrer überzeugt?

In der Klassenlehrerzeit nimmt der Klassenlehrer eine zentrale Funktion ein. In seiner Person laufen viele fachliche, wie auch  persönlichkeitsbildende, soziale und künstlerisch-praktische Disziplinen zusammen. Er bildet so etwas wie einen fächerübergreifenden Knoten eines Netzwerks, in das die Fachlehrer eingebunden sind.

Das ist in der Oberstufe anders: die Verantwortung für die Hauptunterrichtsfächer ist auf mehrere Fachlehrer verteilt, die den Unterricht auf »prüfungsrelevanten« Stoff hin ausrichten. Es werden Grenzen zwischen Fächern gezogen, inhaltliche Grenzen, die aus den Spezialisierungen in den einzelnen Disziplinen erwachsen, und organisatorische Grenzen, die sich aus den Stundenplänen ergeben.

Das Unterrichtsprogramm bildet ein mehr oder weniger glückliches Nebeneinander von Fächern. Auf das Eingangsbeispiel bezogen, ist es also unfair, Musik in einer Randstunde zu unterrichten – aber bei welchem Fach wäre es fair?

Ich wünschte mir, dass sich die Fächer stärker durchdringen und ergänzen und sich an dem ausrichten, was für die Jugendlichen »dran ist«. Das bedeutet konzeptionelle Arbeit, die von jedem Waldorfschulkollegium geleistet werden muss. Ich möchte beispielhaft zu drei Grenzüberschreitungen anregen, die die Überzeugungskraft einer Waldorf-Oberstufe stärken könnte.

Über die Fächergrenzen hinweg

Statt des additiven Aufschichtens einzelner Fachdisziplinen gilt es, die Grenzen der Fachlichkeit zu überschreiten und aus dieser bewusst erlebten Spannung der Interdisziplinarität  den Unterricht zu gestalten. Das erfordert organisatorischen wie kollegialen Einsatz. Es muss der Stunden- und vor allem der Epochenplan eng abgestimmt und fächerübergreifend verschränkt und eine fachlich-professionelle Kooperation bis hin zu Teamteaching eingeübt werden. Der Klassenbetreuer übernimmt dabei die Rolle des Dirigenten, der mit Fachsolisten ein harmonisches Ganzes zum Erklingen bringen muss. Der je fachgeprägte Blick auf gemeinsame Themen macht Zusammenhänge für die Schüler erlebbar. In »Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung« weist Steiner auf die Interdisziplinarität hin: »Aber als Lehrer ist es gut, wenn wir wissen, wie wir füreinander arbeiten … Wenn wir das einfach programmäßig in uns didaktisch aufnehmen, kommt nicht viel dabei heraus; wenn wir eine Schematik daraus machen, dann kommt nichts heraus. Erst wenn wir die Dinge überschauen und aus dem Überschauen den Antrieb finden, im einzelnen Fall da und dort uns zu besprechen, dann kommt etwas dabei heraus.«

Ein solches Bemühen spart Zeit und der inhaltliche Zusammenhang erleichtert es den Schülern, die Sinnhaftigkeit der einzelnen Fächer in der Fülle des Stoffes zu erkennen.

Künstlerisch-praktische Fächer sind keine Wellness-Oasen

Vor dem Hintergrund der Anthroposophie als Methode – nicht als Lehrinhalt oder gar Dogma – ist nachvollziehbar, dass es neben der wissenschaftlichen Erkenntnis (und nicht über oder gar gegen diese) andere Formen der Erkenntnis und des Weltzugangs geben muss, wollen wir den Schülern echte Lebensorientierung ermöglichen. Der Philosoph Leibniz weist in seinen »Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen« auf diese unterschiedlichen Erkenntnismöglichkeiten hin. Dazu zählt er die »klare« ästhetische Vorstellung als Erweiterung des Erkenntnisvermögens; diese gilt es nicht zu lehren, sondern zu üben. Denn nur durch Übung kommen wir zu ästhetischem Wissen. Wenn wir einen solchen künstlerischen Übprozess in den Unterricht integrieren, wird er Grundlage für diese umfassende Form der Erkenntnis.

Übertragen in den Auftrag von (Waldorf-)Schule bedeutet dies, dass die Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis durch individuelles künstlerisches Üben erweitert werden müssen.

Die Durchdringung von definitorischer und ästhetischer Erkenntnis durch Üben, in der Klassenlehrerzeit angelegt, fällt unter dem Fächerdruck der Oberstufe auseinander. Es stehen Mathematik und Chemie  in Konkurrenz zu Musik und Eurythmie. Die innere  Verbindung  beider Bereiche wird zumindest für viele Schüler nicht erfahrbar. Dann wird das Korsett der Prüfungsvorbereitung tatsächlich zu eng, denn dadurch werden allenfalls die Stundenpläne aufgebläht, nicht aber  Erkenntnisvorgänge gefördert

Die künstlerisch-praktischen Fächer sind eben nicht die Wellness-Oasen oder nettes künstlerisches Beiprogramm für hauptfachgestresste Schüler, sondern vermitteln einen eigenständigen Erkenntniszugang.

Empathie als Unterrichtsziel

Eine weitere Grenzüberschreitung erfordert unsere veränderte Lebenswelt.

Wir leben in einer beschleunigten, globalisierten Welt. Die Katastrophen in den entferntesten Ecken der Welt werden uns sofort übermittelt. Unsere banalste Handlung hier in Deutschland, wie ein simpler Einkauf im Supermarkt, setzt eine komplizierte Kette von internationalen Vorgängen sowohl voraus, wie auch selbst in Gang, die wir kaum bewusst kalkulieren können. Aber auch Forschungserfolge entstehen zunehmend durch internationale Vernetzungen. Wer kann von unseren heutigen Schülern sagen, in welchem Land sie später arbeiten und mit welchen Kollegen aus welchen Kontinenten sie zusammenarbeiten werden?

Diese Herausforderungen bilden sich in der Schule ab: Im Fremdsprachenunterricht, in der Geographie, in den Kenntnissen über aktuelle naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse. Aber gelingt es uns, den Schülern zu helfen, die dafür nötige Erweiterung der Erlebnisfähigkeit zu erwerben? Die heutigen Schüler werden diese Prozesse aktiv oder passiv gestalten und benötigen dafür eine Erweiterung der Empathie über das konkrete Umfeld hinaus. Wie kann eine emotionale Bindung zum Chat-Partner in Japan gelingen, selbst dann, wenn ich die Person nicht persönlich kenne? Wie erlerne ich das Einfühlen in fremde Kulturen, das erst den emotionalen Background für das nötige Fachwissen bietet? Als Teil einer weltweiten Schulbewegung liegen in der Waldorfschule sowohl Aufgaben wie auch Möglichkeiten auf der Hand – Schulpartnerschaften, besser: Schülerpartnerschaften mit internationalen Waldorfschulen. Die große Chance dabei ist der Geist, die corporate identity der Waldorfschulen: ein gemeinsames Grundverständnis und ein gemeinsamer Erfahrungshintergrund sind bereits vorhanden. Man erkennt sich unter Waldorfschülern. Und selbstverständlich: die Chancen des WOW-Day! Auch dies sollte keine dem eigentlichen Stoff abträgliche Erfahrung sein, sondern bietet eine innere Logik und einen Lebensbezug, der Lernen erleichtert.

Wir brauchen eine systematische Erforschung unserer Schätze

Diese beispielhaften Verschränkungen: Interdisziplinarität, Erweiterung der Erkenntnisoptionen und Empathie-Fähigkeit bilden mit weiteren waldorfpädagogischen Elementen (Phänomenologie, Praktika usw.) einen inneren Kern der Oberstufe, der sicherlich an manchen Schulen bereits existiert. Was Not tut, ist eine systematische Erforschung solcher waldorfpädagogischen Schätze und deren Sichtbar- und Nutzbarmachung.

Vor Ort geschieht schon viel. Doch sollte darüber ein schulübergreifender Dialog angeregt werden. Ich wünschte mir überschulische Orte, an denen sowohl fachspezifisch wie auch interdisziplinär solche Fragen erarbeitet und veröffentlicht werden können. Dann werden die scheinbar übermächtigen Zwänge der Prüfungen an den Ort verwiesen, der diesen zusteht: Eine von außen kommende Übung und Bestätigung dessen, was für die Schüler richtig gelaufen ist.

Zum Autor: Hans Hutzel ist Geschäftsführer der Emil-Molt-Akademie in Berlin und Mitglied des Vorstandes des Bundes der Freien Waldorfschulen.