Revolution am Mittelmeer

Lina Petry

Die Ausschreibung für die »École Domaine du Possible« auf der Internetseite der »Freunde der Erziehungskunst« klang toll. Eine neugegründete Schule mitten in derwildromantischen Natur der Camargue, engagierte Lehrer, ein revolutionäres, optimistisches Konzept, eine Wohnung in Arles – perfekt, um nach der kopflastigen Schulzeit erste Arbeitsluft zu schnuppern! So dachte ich, als ich mitten im Abitur eine Stelle für meinen Freiwilligendienst suchte. Frankreich sollte es sein, der Liebe wegen, selbstverständlich nur zu Landschaft und Meeresluft.

Was ich in Arles erlebte, war alles andere als eine ländliche Idylle. Denn die Aufregung, die über uns im Frühjahr 2017 hereinbrach, fegte jedes bisschen stille Landluft hinweg. Was war passiert? Eine kleine Revolution: Die Schulgründerin Françoise Nyssen, ohne jegliche politische Erfahrung, war zur französischen Ministerin für Kultur ernannt worden – eine Sensation.

Als am 7. Mai das Telefon im kleinen Büro von Françoise klingelte und der frisch gebackene Staatspräsident Emmanuel Macron am Hörer war, schien die Zeit still zu stehen in unserer Schule. Aber nur kurz. Die Verlegerin von Actes Sud folgte bekanntlich seinem Ruf und machte sich auf nach Paris. Was der Minister-Job für Auswirkungen auf einen bis dahin politisch kaum erprobten Menschen hat, ist unvorstellbar – noch unvorstellbarer sind allerdings die Auswirkungen, wenn diese Ministerin auch noch knapp ein Jahr zuvor eine Schule gegründet hat. Die Schule wurde von diesem Zeitpunkt an von einem wahren Mediensturm überflutet. Der größte französische Fernsehsender »TF1« und die wichtigsten meinungsbildenden Zeitungen Frankreichs, »Le Figaro« und »Le Monde«, waren nur die Speerspitze aller anderen, die stündlich den Schulleiter Henri Dahan anriefen, um Insider-Wissen über Nyssen und ihr »kleines Reformpädagogik-Projekt« zu erhalten. Mit über 600 Bewerbungen auf die Schulplätze und nahezu genauso vielen Job-Anfragen von Lehrern aus allen Ländern der Welt, die ab Anfang Mai sturzbachartig eintrafen, sah man unsere Sekretärin gar nicht mehr hinter dem täglichen Poststapel. Henri Dahan begegnete ich von da an nur noch mit einer Tasse starkem Espresso in der Hand und dem Telefon am Ohr.

Françoise Nyssen hatte mit dieser Schule etwas Außerordentliches geschaffen und die französischen Medien rissen sich um Informationen über eine Frau, die über Nacht zum Liebling der Nation geworden war.

Auch heute, nach über einem Jahr im Amt, steht Nyssen noch für den Geist der Zukunft. In ihrer Neujahrsrede sprach sie davon, die Mona-Lisa zu verleihen und Bahnhofshallen in Kulturorte zu verwandeln.

Wider das verstaubte System

Genau aus diesem Geist heraus hatte sie 2015 gemeinsam mit ihrem Mann Jean-Paul Capitani die Schule gegründet. Nach dem Verlust ihres Sohnes Antoine, der sich auch wegen einer als extrem schwierig empfundenen Schulzeit mit 19 Jahren das Leben nahm, gründete die Unternehmerin einfach eine neue Schule, anstatt über alte Systeme zu jammern. Neu machen – nichts ist ein schmerzlicherer Fingerzeig auf das französische Bildungssystem, als Menschen, die es endlich hinkriegen, das Alte zu ignorieren, wenn sie es schon nicht hinwegfegen können. Zahlreich sind und waren die Stimmen für eine Reform der pädagogischen Methoden in Frankreich – und nur die wenigsten werden überhaupt ernst genommen.

Ich selbst hatte in einem Austauschjahr drei Jahre vorher die verstaubten Klassensäle und Lehrkonzepte Frankreichs im Lycée Jean Moulin in Béziers kennengelernt. Ein großes graues Gebäude und Frontalunterricht von morgens um acht bis abends um sieben. Tageslicht sehen viele französische Schüler im Winter selten bis gar nicht, da sie alle bereits ab dem Kindergarten in Ganztagsbetreuungen untergebracht sind. Spaziergänge, musizieren, Reitunterricht und Hausaufgabenbetreuung? Fehlanzeige im staatlichen System und – wie sollte es anders sein – natürlich ganz oben auf dem Stundenplan, den Françoise Nyssen in Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Vorsitzenden des Bundes der französischen Waldorfschulen, Henri Dahan, für ihre zukünftigen Schüler erstellte.

Außerdem gibt es Eurythmie, Theater, vegetarisches Bio-Essen, Ausflüge in Bioreservate und Wetterstationen, Konzerte und große Sommerfeste. Bei all dem war es für mich durchaus nachvollziehbar und kein Wunder, dass diese Frau zur Ministerin für Kultur ernannt wurde.

Eine Schulgründung ist nicht einfach

Was dieser Hype mit einer Schule macht, die gerade in den Geburtswehen liegt, ist jedoch heikel. Denn wer viel verspricht, muss viele Versprechen halten. Als im Mai die Reporter über die Schule herfielen, konnte diese auf gerade sechs Monate Schulalltag zurückblicken. Sechs Monate, die zwar idyllisch geplant waren, aber krisenreich verliefen, wie ich hautnah mitbekam. Der Umbau des Schulgebäudes, Unterricht zwischen Presslufthämmern und frischer Wandfarbe – es gibt bessere Bedingungen für Gruppenbildung bei Erstklässlern. Auch wenn Nyssen und Dahan alle Mittel auf­fuhren, um den Schulstart so fulminant und gelungen wie möglich zu machen, – anstrengend war es auch vor dem Sturm bereits für alle Beteiligten.

Unsicherheit und mentaler Stress gehörten ebenso zum Schulalltag, wie Deutsch und Mathe. Die Stimmung zwischen den Kollegen war aufgrund ständig neuer Herausforderungen und des Mangels an Zeit, diese zu meistern, oft angespannt. Denn der Stundenplan von Schülern und vor allem Lehrern war mit dem normalen Schulalltag bereits gut gefüllt. Unvorhergesehenes hatte im Taschenkalender von Henri Dahan und seinen Kollegen keinen Platz mehr – musste aber bewältigt werden.

Auch meine Tage waren gut gefüllt. In der Regel half ich im Kindergarten und bereitete verschiedene Aktivitäten mit vor. Ich half beim Mittagessen und sang Kinder in ihr Nachmittagsschläfchen. Nebenbei war ich jedoch trotzdem oft in der Schule und assistierte im Deutschunterricht und beim Kochkurs, half bei der Gartenarbeit oder deckte den Mittagstisch für die Schüler. Auch das schuleigene Orchester unterstützte ich einmal wöchentlich am Geigenpult.

Als die Nachricht von der Ernennung Nyssens zur Ministerin kam, war das nicht nur für mich ein Schock. Denn auch wenn es Gerüchte gegeben hatte, Emmanuel Macron sei im Hause Nyssen-Capitani zum Diner gewesen – dass er sie zur Ministerin ernennen würde, hatte keiner erwartet.

Danach stieg der Druck für alle Angestellten ins Unermessliche, denn die Argusaugen der Medien verfolgten quasi jeden unserer Schritte.

Optimismus und Glaube an ein lebenswertes Leben

Trotzdem das Ruder zu halten und 110 Schülern einen stabilen Schulalltag zu ermöglichen, ist wohl nur mit unschlagbarem Optimismus machbar. Zum Glück von Françoise Nyssen und ihrem Mann verkörpert Henri Dahan diesen Optimismus wie kein Zweiter. Bereits vor der Eröffnung der Schule schrieb er ein Buch über Impulse, die Kinder glücklich machen und ihnen das Leben beibringen sollen. Gemeinsam mit den Gründern stellte er während meines Jahres dort ganz besondere Veranstaltungen auf die Beine. Die Verlagschefs haben ein außerordentliches Adressbuch und für ihr persönliches Projekt ließen sie die Leitungen heiß laufen. Ökologische Aktivisten und Autoren wie der Humanist Pierre Rabhi und die indische Globalisierungskritikerin Vandana Shiva – beide publizieren bei Actes Sud – hielten an meiner Schule Vorträge und diskutierten mit den Kindern. Musiker und Schauspieler kamen zu Besuch und stellten ihre Kunst den Schülern vor – das war nicht nur aufregend für die Teenager, sondern auch eine Motivation: Das will ich auch!

Es bleibt zu hoffen, dass dieses Feuer, das in Françoise Nyssen und ihren Kollegen brennt, nicht durch die Anspannung erstickt wird, sondern weiter lodert und durch den Glücksfall ihres Ministerpostens auf das gesamte französische Bildungssystem überspringt. Ich habe in meiner École Domaine du Possible beide Seiten kennengelernt, die Ruhe und den Enthusiasmus ebenso wie die Aufregung und das Durcheinander. Nicht nur nach dem Macron-Sturm, sondern auch schon vorher durch den pädagogischen Neuanfang aus dem Nichts.

Über beides bin ich sehr glücklich, auch wenn ich abends oft geschlaucht in mein Bett fiel. Dankbarkeit empfinde ich auch darüber, Françoise Nyssen getroffen zu haben – als normale Bürgerin und Ministerin über Nacht.

Zur Autorin: Lina Petry (21) studiert Philosophie, Kunst und Gesellschaft an der Alanus Hochschule.