Gartenbau – Was hat das mit mir zu tun?

Erziehungskunst | Warum gibt es Gartenbau an Waldorfschulen? 

Andreas Höyng | Ein halbes Jahr nach der Schulgründung im März 1920 führte Rudolf Steiner in der Konferenz das Fach Gartenbau als obligatorisch ein. Zuvor gab es Klagen der Lehrer, die Kinder seien träge, und Steiner machte in einem persönlichen Gespräch die lapidare Aussage: Sie haben doch da ein großes Gelände. Dort sollten die Schüler gärtnerisch arbeiten. Er gab keine tiefere menschenkundliche Begründung für den Gartenbau, nur den Hinweis, dass diese Arbeit mit dem Eintritt in die Pubertät, wenn die Kinder zwölf Jahre alt sind, beginnen sollte. Die erste Gartenbaulehrerin Gertrud Michels sollte dazu etwas ausarbeiten, was dann in den Lehrplan aufgenommen werden sollte.

Aus dem Studium der Allgemeinen Menschenkunde ergeben sich viele Gesichtspunkte für den pädagogischen Wert des Gartenbaus: Im 13. Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde entwickelt Steiner den Begriff der sinnvollen Tätigkeit: »Indem wir die Hand ausstrecken zu sinnvoller Arbeit, verbinden wir uns mit dem Geiste … Also nicht darauf kommt es an, dass der Mensch tätig ist, denn das ist auch der Träge, sondern darauf kommt es an, inwiefern er sinnvoll tätig ist. Sinnvoll tätig ist er, wenn er so tätig ist, wie es seine Umgebung erfordert, wie es nicht bloß sein eigener Leib erfordert.«

Für den Unterricht bedeutet das, dass die Schüler so in den Gartenorganismus hereingeführt werden, dass sie die fortlaufend anfallenden Arbeiten im Jahresrhythmus in ihrer Notwendigkeit erleben und zugleich willentlich ausführen lernen. Dabei kann sich u.a. ein differenziertes Gefühl für das Walten des Lebendigen und seiner Rhythmen ausbilden.

Ein anderes Motiv kann eine Äußerung Steiners an eine Klassenlehrerin erhellen. Er weist darauf hin, dass die Kinder, wenn sie mit den Gliedmaßen tätig den Jahreslauf erleben, die anderen Unterrichtsfächer davon befruchtet werden und dass die Früchte solcher Tätigkeiten sich beim Erwachsenen als Fähigkeit im Sozialem zeigen.

EK | Warum wird die Erfahrung dieser Qualität von Arbeit zu Sozialkompetenz?

AH | Schon in der ersten Gartenbaustunde mache ich die Kinder darauf aufmerksam. Ich beschreibe die Fächer Werken, Handarbeit und Gartenbau als drei Geschwister, vergleiche sie und mache das Gemeinsame und das Unterschiedliche an ihnen bewusst: »Wenn ihr pflanzt, sät, pflegt, hackt und erntet, entsteht etwas, was der Erde mit ihren Naturreichen und anderen Menschen zugute kommt. Im Werken und in der Handarbeit nehmen die Kinder in der Regel ihre Produkte mit nach Hause. Dann frage ich: »Wie nennt man das, wenn ich etwas mache und anderen fließt das Ergebnis meiner Arbeit zu?« Das ist sozial. Dies wird ganz elementar im täglichen Vollzug mit zunehmendem Bewusstsein geübt. Es geht nicht um Selbstversorgung, sondern um eine Grunderfahrung sinnvoller menschlicher Arbeit: Man lebt von den Produkten anderer, und das, was man einbringt, fließt an andere.

EK | Warum ist es wichtig, die natürlichen Rhythmen kennen und mit ihnen umgehen zu lernen?

AH | Man muss ja heute nicht betonen, dass wir in den letzten 100 Jahren aufgrund der Missachtung der Gesetze des natürlichen Lebens unsere Lebensgrundlagen weitgehend zerstört haben. Die Mechanisierung, wie sie in der Industrie, bei der Herstellung von Maschinen oder bei toten Produkten eine Berechtigung hat und der wir viele Güter verdanken, die wir nicht missen möchten, wirkt zerstörerisch, wenn sie in die Lebensprozesse im Übermaß eingreift. Denn alles Lebendige verläuft in rhythmischen Prozessen, nicht in mechanischen.

Im Landwirtschaftlichen Kurs ist Steiners einleitender Gedanke, dass der Blick heute zu stark auf das Biochemische gerichtet ist, und nicht auf die kosmisch-irdischen Rhythmen. Und dass man mit der Arbeit an der Erde nur zurechtkommt, wenn man diese Rhythmen einbezieht, wenn man gesundend wirken will. 

EK | Also nicht aus einem Detailwissen, sondern aus einem Gesamtzusammenhang heraus arbeitet ...?

AH | Ja. Wenn ich mit der Erde am Lebendigen arbeite, tauche ich in den Rhythmus von Leben und Tod ein. Ich bin daran auf verschiedenen Stufen – bewusst, halbbewusst, unbewusst − beteiligt, kann mich gar nicht herauslösen aus diesem rhythmischen Gesamtzusammenhang.

Die Kinder sollen von diesen Rhythmen durch ihre Tätigkeiten ein Empfinden bekommen. Im Umgang mit dem Computer sind wir eingespannt in mechanisierte Vorgänge; in der Natur stehe ich in Lebensvollzügen – mitten drin. Das ist ein elementarer Unterschied. In der Technik gibt es gleichförmigen Takt, in der Natur und im Leben nicht.
Der Morgenspruch der Waldorfschule beschreibt Himmel, Sonne, Sterne, dann die drei Naturreiche und dann den Menschen: »… indem der Mensch beseelt dem Geiste Wohnung gibt.« Jetzt kommt der Gedanke, der die ganze Waldorfpädagogik und auch den Gartenbau durchzieht: »Der Gottesgeist, er webt im Sonnʼ- und Seelenlicht / Im Weltenraum da draußen, in Seelentiefen drinnen.« Das ist ein Rhythmus. Und den herzustellen, das ist die pädagogische Aufgabe. Deswegen das Wort »weben«, es ist ein Gewebe. 

Wie bekomme ich es also hin, die Kinder erahnen zu lassen, dass ein Zusammenhang von außen und innen besteht? Wenn sie erleben, dass die Welt da draußen, die Naturreiche, mit mir als Mensch in einem inneren Gesamtzusammenhang stehen.

EK | Wenn also so ein »Schluffi« auf dem Acker steht, ihm der Spaten fast aus der Hand fällt, wenn er umstechen soll – was unternehmen Sie dann konkret, damit in ihm die Empfindung auftaucht, er macht etwas Sinnvolles und er macht es sogar gern?

AH | Das Geheimnis ist: rhythmisch arbeiten. Ich mache es vor, und er sieht: Das geht wie von selbst. Ich darf nicht stehen bleiben. Wenn du da reinkommst – heute sagt man Flow –, macht das Spaß. In dem Moment, wo ich einen für mich individuellen Rhythmus finde oder einen Gleichklang mit der Gruppe, dann fließt die Arbeit. Das gelingt natürlich nicht immer.

Aber jetzt zu der eigentlichen Frage: Warum grabe ich? Nicht damit der Garten schön aussieht. Als Lehrer muss ich diese Einzeltätigkeit in einen großen Zusammenhang stellen, denn der Schüler erlebt immer nur einen kleinen Ausschnitt, wenn er einmal die Woche in den Garten kommt. Im Gartenbau machst du hier jetzt etwas, und die Wirkung liegt zeitlich woanders. Ich grabe im November und die Wirkung dieser Tätigkeit, Frostgare nennt es der Landwirt, erlebt der Schüler im März, wenn der Boden zerfällt, sich erwärmt und ich ihn bearbeiten kann. Insofern: Den Jahreslauf tätig zu erleben, gibt ein Gefühl nicht für die Mechanik, sondern für das Gewebe. Im Gartenbau geht es wesentlich um ein Empfinden lebendiger Rhythmen und ein anfängliches Verstehen kausaler Zusammenhänge. Durch das dreifache Wiederholen bei der Pflege der einjährigen Pflanze in der 6., 7. und 8. Klasse – die Pflänzchen werden wieder gesät und wieder pikiert und wieder gehackt – entsteht ein Empfinden für rhythmische Lebensvorgänge.

EK | Beschränkt sich der Gartenbau nur auf diese drei Klassenstufen? Sollte dieses Fach nicht auf alle Klassenstufen ausgeweitet werden?

AH | Ja, klassisch sind es bei den meisten Schulen die 6., 7. und 8. Klassen. Darüberhinaus jedoch findet der Gartenbau in der 9. und 10 Klasse in Epochen statt, in denen durch Betrachtung und Praxis die mehrjährigen Pflanzen wie Sträucher und Obstbäume den Schwerpunkt bilden. In der 3. Klasse gibt es dann noch die sogenannte Ackerbau-Epoche.

Doch man erlebt heute einen solchen Mangel, eine solche Entfremdung von der Natur, dass sie an die Kinder von klein auf herangebracht werden sollte. Nur würde ich das Fach dann ganz anders unterrichten. In der 1., 2., 3. Klasse hätte es auf jeden Fall nicht diesen Arbeitscharakter. Das ist eine Zukunftsaufgabe: je nach Ort und Schule aus der Menschenkunde heraus Entsprechendes altersgemäß zu entwickeln. Die Klassenlehrer kommen gern und oft in den Garten, um den Kindern die Naturreiche irgendwie nahezubringen; da herrscht ein regelrechter Hunger danach.

EK | Die Schüler begegnen im Gartenbau den verschiedenen Naturreichen, der mineralischen, der pflanzlichen, und, wenn vorhanden, der tierischen Welt mit ihren unterschiedlichen Rhythmen. Wird dies aufgegriffen?

AH | Es ist die Frage, ob man in der mineralischen Welt von Rhythmen sprechen kann. Sie ist eigentlich aus dem Leben herausgefallen, sie stammt aus Lebensprozessen, hat aber keine endogenen Rhythmen. Aber sobald ich in die Pflanzenwelt hineinkomme, begegne ich Rhythmen. Überhaupt überall, wo wir es in der Natur mit Leben zu tun haben, treten uns Rhythmen entgegen.

Als Gärtner oder Landwirt hat man einfach aus der täglich notwendigen Arbeit vielleicht das Glück, ein wacheres Bewusstsein für die vielfältigen Naturrhythmen auszubilden und sie in das Alltagsleben einzubinden. Das fließt dann hoffentlich auch gesundend in den Unterricht ein. Außerdem lebt man als Gärtner stark in dem Spannungsfeld zwischen dem, was die kleinen und größeren Rhythmen in der Natur sind, und dem, was gar nicht so regelmäßig verläuft.

Stürme, Unwetter, Trockenperioden, überhaupt das Wetter, kann ich nicht so voraussagen wie den Gang der Sterne. Ob es in fünf Tagen wirklich um 17:23 Uhr Niederschlag gibt hier an diesem Ort und wie viele Millimeter, das kann ich nicht berechnen. Man versucht, immer genauer zu werden, aber selbst die beste Wetter-App gibt es nicht her, geschweige denn drei Jahre im voraus. Den Mond, alle Sterne kann ich berechnen über Jahrzehnte exakt im voraus für jeden Standort der Erde, aber nicht das Wetter und die damit verbundenen Erscheinungen.

Nun, die Schüler mache ich aufmerksam auf die Sterne zum Saatzeitpunk, z.B. bei der Getreidesaat in der 3. Klasse, damit immer diese Verbindung hergestellt wird: oben der Himmel und unten die Erde. Die Schüler erleben dann, dass ich mich mit meinen Arbeiten in größere Zusammenhänge bewusst eingliedere. Ich kenne den Jahreslauf und die Rhythmen. Jetzt haben wir März mit ganz charakteristischen Phänomenen und Arbeitsabläufen, aber ich kann nicht sagen, ob ich am 3. März hacken werde, das ist nicht Rhythmus. Der gute Gärtner schafft immer die richtige Arbeit zum richtigen Zeitpunkt. Da bin ich im Weben des Lebendigen. 

EK | Ist das Verhältnis zum Rhythmischen in den verschiedenen Naturreichen dasselbe?

AH | Je höher ich steige im Naturreich, Pflanze, Tier, Mensch, um so größer ist die Emanzipation von den äußeren Rhythmen. Ich als Mensch kann abends das Licht anmachen und mir fallen nicht die Augen zu, weil die Sonne untergegangen ist; die Pflanze macht das. Sie hat einen festen Standort und ist in all ihren Lebensprozessen festgelegt. Man kennt das von der Photosynthese, die mit Licht einsetzt. Man erlebt, wie manche Pflanzen am Abend die Blätter zusammenziehen. Also die Abhängigkeit von der Lichterscheinung ist offenkundig. Das Aufblühen der Blumen im Laufe des Tages. Jede Pflanze gliedert sich ein in diesen Tag-Nacht-Rhythmus und den Jahres-Rhythmus, wo wir als Menschen fast am bewusstesten sind. Den Wochen- und Monatsrhythmus erleben wir weniger bewusst. Wir freuen uns am Frühling, leben ihn stimmungsmäßig mit, den Rhythmus erlebt man. Den Tagesrhythmus mit Schlafen und Wachen auch. Der Monatsrhythmus ist uns nicht so bewusst. Der Gärtner lebt unter anderem auch bewusst mit den Mondrhythmen, die sehr vielfältig sind. Darin sind die Pflanzen vollkommen eingebunden, auch noch das Tierreich, aber weniger stark. Das zeigt die Entwicklung vom Wildtier zum Haustier, z.B. was die Trächtigkeit und die Geburt anbelangt – wieder ein Stück Emanzipation vom Rhythmus. In dem Moment, wo der Mensch in das Tier züchterisch eingreift, bindet er es an sich und zugleich lösen sich z.B. die Geburten von den engen kosmischen Rhythmen.

EK | Der Mensch hat sich also von diesen Naturrhythmen am weitesten emanzipiert. Aber seine leibliche Organisation ist doch voller Rhythmen?

AH | Der Mensch ist nur in seiner Gedanken- und Wahrnehmungswelt von der Natur emanzipiert. Ich kann die Philosophie der Freiheit im Sommer wie im Winter lesen. Bei den Leibesvorgängen, den Organtätigkeiten, ist er stärker ein vegetatives Wesen. Was die Chronobiologie an Rhythmen im menschlichen Organismus beschrieben und erforscht hat, das ist der Mensch in der Sphäre des Ätherischen, der Lebenskräfte. Die Rhythmen des Seelischen sind wiederum andere und emanzipierter von den äußeren Naturrhythmen: Wann konzentriere ich mich, wann löse ich mich? – Der ganze Waldorfunterricht arbeitet im Seelischen mit diesen polaren Rhythmen: Spannen und Lösen, Ein- und Ausatmen. Dieser Rhythmus wirkt bis in die Lebensvorgänge hinein gesundend. Solange ich lebe, ist mein Leib unbewusst diesen Rhythmen unterworfen. Der Mensch kann sich seelisch-geistig davon lösen, das Tier nur sehr eingeschränkt, die Pflanze nicht.

EK | Wir haben von den natürlichen Rhythmen in der Natur, von den Rhythmen im Menschen gesprochen. Welche Qualitäten ziehen durch den Blick in den Himmel, in den Kosmos, neu in den Unterricht ein und wie werden sie vermittelt? 

AH | Das nur Theoretische hinterlässt keinen so starken Eindruck in der Seele des Kindes, so dass es dadurch motiviert würde, auch zu arbeiten. Wenn es mir gelingt, die Kinder dahin zu führen, dass sie aus der Arbeit heraus selber anfangen zu fragen, ist das der beste Einstieg für gedankliche Betrachtungen und die Darstellung größerer Zusammenhänge. Unmittelbar vor meiner Gartenhütte hängt schwingend ein Bienenkorb, der regt die Kinder zu Beobachtungen an. Das Bienenvolk ist ja so offenkundig und leicht wahrnehmbar ganz in den Rhythmus der Sonne eingebunden sowohl im Tages- wie auch im Jahresrhythmus. Korrespondierend mit dem Steigen der Sonne am Himmel im Frühling legt die Bienenkönigin ihre Eier und das Bienenvolk wächst mit zunehmender Tageslänge. Viele Fragen entstehen bei den Schülern. Wo ist die Königin? Können wir sie mal sehen? Wie finden die Bienen den Baum mit den Blüten? Wie orientieren sie sich? Dann führe ich die Schüler in die Beobachtung und mache darauf aufmerksam, dass bestimmte Pflanzen­arten nur morgens geöffnet sind, wie z.B. die Königskerzenblüten bis 12 Uhr mittags. Nektarabsonderung einer Pflanzenart geschieht im Rhythmus, bestimmte Stunden am Tag, und dann ist »Ladenschluss«. Manche haben nur wenige Stunden geöffnet, aber täglich um die gleiche Zeit. Pollen- und Nektarabsonderungen an den einzelnen Pflanzen geschehen rhythmisch, aber nicht synchron. Und wenn die Kinder das entdecken, dann erahnen sie staunend etwas von der ungeheuren Weisheit, vom Wechselspiel des Makrokosmos und Mikrokosmos, der in diesen Rhythmen zur Erscheinung kommt. 

EK | Spielt die Astronomie eine Rolle im Gartenbau? 

AH | Nur insofern als ich bei meinen Arbeiten die kosmischen Rhythmen berücksichtige und im Gespräch mit den Schülern sie an meinen Gedanken teilnehmen lasse bzw. versuche, Fragen dahingehend zu wecken. Die Kinder kommen einmal in der Woche in den Gartenbau und sollen und wollen die Welt praktisch tätig erleben. Die sind nicht auf Gedankliches eingestellt, sie wollen etwas tun und sie sollen auch etwas tun. Im Gartenbau knüpfe ich an die Epochen an, die sie haben: Chemie, Geologie, Pflanzenkunde, Geografie, Sternenkunde usw. Winter- und Sommersonnenwende, Tag- und Nachtgleiche, Gang der Sonne und Planeten durch den Tierkreis usw. sind je nach Situation und Klasse Gesprächsinhalt und Gegenstand kürzerer Betrachtungen und Ergänzungen zum Hauptunterricht.

EK | Angesichts der Klimakrise scheint das Fach Gartenbau hochaktuell.Müsste man diesen Ansatz nicht verstärken?

AH | Ja. Es braucht jetzt einen Austausch mit Menschen, die ganz in der Waldorfpädagogik drinstehen. Für mich ist das eine offene Frage, worauf ich noch keine fertigen Antworten habe, nur Ideenkeime. Reformbedürftig ist auch in mancher Hinsicht das Landwirtschaftspraktikum.

Nachdem die Landwirtschaft in den 1960-70er-Jahren nahezu zerstört war, wurden die Menschen wach. Die Flüsse waren vergiftet, maßloser Kunstdüngereinsatz, es gab die Flurbereinigungen und die Rationalisierungen der Betriebe. Erst Anfang der 1970er-Jahre wurde das Landwirtschaftspraktikum an Waldorfschulen eingeführt – also in einer Zeit, in der in breiten Bevölkerungskreisen die ökologische Krise als Herausforderung und Zukunftsaufgabe empfunden wurde. Steiner hat bereits vor Schulgründung 1919 auf die pädagogische Bedeutung eines solchen Praktikums hingewiesen. Heute haben wir etablierte Formen. Doch es ist Zeit, neue Ideen zu entwickeln. Das sind wir der heranwachsenden Generation schuldig. In den 34 Jahren, in denen ich unterrichte, hat sich einiges gewandelt. In der Mitte der 1990er-Jahre zog der Computer in die Haushalte ein, übte eine große Faszination aus und fesselte die jungen Menschen. Zu der Zeit war es vielen Jugendlichen nur peinlich »öko« zu sein und sich im Gartenbau die Schuhe schmutzig zu machen. Das ist heute anders. Wach für die Klimakrise, gegen die Quälerei in der Massentierhaltung, mit der Fridays for Future-Bewegung ist es nicht mehr peinlich, Gartenbau zu machen – selbst für Achtklässler. 

Daher brauchen wir neue Formen. Das Interesse ist da; das merkt man an den Fragen der Oberstufenschüler. Die müssen in die Welt hinaus, nicht nur in den Gartenbau der Schule. Deswegen wollte Steiner die Praktika. In der 6., 7. und 8. Klasse braucht es noch den Schutzraum der Schule und Klassengemeinschaft, aber die Oberstufe muss da mehr bieten. Die Schüler müssen erfahren: »Ich werde gebraucht in der Welt.« Und daran leiden bisweilen die Landwirtschaftspraktika. Das Erlebnis: »Ich werde hier nur beschäftigt«, motiviert sie nicht.

Das Interview führte Mathias Maurer