Rhythmen der Welt und Rhythmen des Menschen

Christian Boettger

Beschäftigt man sich mit ihnen längere Zeit, kann man jedoch eine Ahnung von den Kräften entwickeln, die das innere Erleben der Jahreszeiten, der Natur und der geistigen Aspekte des Jahreslaufs bestimmen, durchdringen und durchklingen. Es kann sogar sein, dass von diesen Sprüchen und der Beschäftigung mit ihnen eine heilende Kraft für die eigene Seele ausgeht. Wir kennen alle den großen Rhythmus des Jahres: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. In diesen Jahreszeiten feiert die Menschheit schon seit Urzeiten Feste. Heute feiern christlich geprägte Kulturen insbesondere das Osterfest und das Weihnachtsfest.

In mehr naturverbundenen Religionen werden das Johannifest am 24. Juni und auch ein Michaelifest am 29. September gefeiert. Wenn man die eigentlichen Daten nicht so genau nimmt, ereignet sich etwa alle drei Monate eines dieser vier großen Feste. So wie man hier in Mitteleuropa die qualitativen Unterschiede der Jahreszeiten an den beiden Tag- und Nachtgleichen (im Jahr 2021 am 20. März und 22. September) und der Sommer- und Wintersonnenwende erleben kann, so kann man eine feinere Gliederung von acht Schritten erleben, indem man jeweils die Umschlagpunkte der Jahreszeiten betrachtet.

Oder man denke an das Erleben der Jahresgliederung durch die zwölf Monate, die mit dem Tierkreis korrespondieren. Wenn man diese Gliederung weiter verfeinert, wie das Rudolf Steiner mit dem Seelenkalender unternimmt, kommt man zu 52 Wochensprüchen. Dieses Heft erscheint in der Zeit, von der die Sprüche des Seelenkalenders der 5. bis 8. Woche nach Ostern handeln, die hier betrachtet werden sollen. Steiner beginnt die Wochensprüche des Jahres mit dem Ostersonntag 1912. Mit der Auferstehungsfeier des Christus beginnt für das christliche Jahr eine neue Zeitrechnung, die auch die ersten sieben Wochen des Jahres bis Pfingsten (50 Tage) gliedert. Wenn man sich nun die Wochensprüche genauer anschaut, können Fragen in drei Richtungen entstehen. 

  1. Wie erlebe ich in dieser Woche die Entwicklung und Veränderung in der Natur?
  2. Kann ich eine Veränderung in meiner Seelenstimmung in dieser Woche erleben, die dem Jahresrhythmus folgt?
  3. Kann ich auch eine geistige Signatur dieses Geschehens erleben?

Dieses dreifache Erleben wird für mich im täglichen Umgang mit den Sprüchen angeregt. Es entstehen durch die Spruchkomposition Gesichtspunkte, die mich zu einer Art träumerischer Sicherheit im Verstehen führen, die auch von Steiner selbst in dem Spruch beschrieben wird, der für die Woche gilt, die mit dem Pfingstsonntag beginnt: »Wenn göttlich Wesen sich meiner Seele einen will, muss menschlich Denken im Traumessein sich still bescheiden.« So kann uns in einem ersten Schritt ein mehr träumerisches Verstehen vielleicht eine Hilfe sein, über den Umgang mit den Sprüchen zu Inspirationen zu kommen.
Schauen wir uns den Spruch für die 5. Woche genauer an:

Im Lichte, das aus Geistestiefen
Im Raume fruchtbar webend
Der Götter Schaffen offenbart:
In ihm erscheint der Seele Wesen
Geweitet zu dem Weltensein
Und auferstanden
Aus enger Selbstheit Innenmacht.

Zunächst ist es das Licht, das seine Qualität von Tag zu Tag oder zumindest von Woche zu Woche durch seine Fruchtbarkeit auf der Erde, in den wachsenden und vielfach blühenden Pflanzen erlebbar macht. Auch die menschliche Seele kann in dieser Zeit erleben, wie sie zunehmend und gerne draußen einatmet, ja, man kann förmlich fühlen, wie sich der Brustkorb weitet. Die Seele kann sich beim Atmen zur Welt hin öffnen und weiten und erlebt eine Art Auferstehung des auf sich bezogenen Selbstes. Noch in der Woche davor beschrieb der Spruch, wie sich »das eigene Wesen in der sonnerhellten Welt mit Lichtesfluten« vereint und sich der Mensch über das Wärmeerleben mit der Welt verbinden kann.

Aber mit dem Spruch der 5. Woche kommt zu der in der 4. Woche stark betonten Empfindung noch etwas dazu, das Rätsel aufgibt: Kann man wirklich erleben, dass dieses stärker werdende Licht »aus Geistestiefen göttliches Wirken« offenbart? Kann man sich erwärmen für eine Anregung des Spruchs, dass alles Irdisch-Menschliche auch eine göttlich-geistige Dimension hat, die gewissermaßen den Hintergrund aller Erscheinungen bildet? Weiterhin weist die Zeile »und auferstanden aus enger Selbstheit Innenmacht« auf die Verbindung zum Osterfest des Christentums hin. Wie ist dieser Weg der Auferstehung einer neuen Kraft in mir in den Sprüchen vorher angelegt?

Der erste Spruch, der direkt mit dem Ostersonntag beginnt, spricht davon, dass aus der Hülle unseres Selbstes, angeregt durch die Ostersonne, Gedanken in die Welt ziehen und des Menschen Wesen noch dumpf an ein Geist-Erleben anbinden können.

In der zweiten Woche wird dieses Geschehen weiterentwickelt, indem darauf hingewiesen wird, dass die »Geisteswelten den Menschensprossen« wiederfinden, der seine »Seelenfrucht in sich selbst« finden müsse. Diese Worte erlebe ich so, dass in meinem Selbst die Früchte des Erdenlebens des Christus, in Form einer tiefen und umfassenden Menschlichkeit reifen können.

In der dritten Woche wird auf dieses in mir wachsende Ich explizit hingewiesen, das bemerkt, wie es sich »aus der Fessel seiner Eigenheiten« befreit und sein »echtes Wesen ergründen« kann. Angelus Silesius schrieb: »Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht in dir: Du bliebest ewiglich verloren.« – oder »Ich sag, es hilft dir nichts, dass Christus auferstanden, wo du doch liegenbleibst in Sünd’ und Todesbanden.« Er wies damit darauf hin, dass in jedem einzelnen Menschen der wahre Mensch erst geboren werden muss.

Die siebte Woche – die Woche zwischen Himmelfahrt und Pfingsten – weist dann auf eine reale Gefahr im seelischen Erleben hin. Im Miterleben der Jahreszeit wird mein Selbst von der Natur immer mehr angezogen. Wenn man in dieser Zeit beginnt, sich einer träumerischen Ahnung zunehmend hinzugeben, kann man neu die Sommerentwicklung in sich aufnehmen. Viele Menschen kennen das nur zu gut, dass die zunehmende Wärme und das Licht in der äußeren Natur es viel schwerer machen als im Winter, sich dem glasklaren Denken und dem kühlen Verstand zu bedienen. Solche Warnungs- oder Gefahrensprüche tauchen viermal unter den 52 Sprüchen auf (7., 20., 33. und 46.).

Wenn man sich mit diesen 52 Sprüchen Woche für Woche durch das Jahr bewegt, kann man erleben, wie die eigene Seele mit dem natürlichen Jahresrhythmus »mitatmet«. Man bemerkt, wie manchmal in der Natur Prozesse schneller oder langsamer als in den Sprüchen beschrieben verlaufen. Man kann fühlen, wie man selber manchmal nicht in der Stimmung ist, das Formulierte innerlich wahrzunehmen. Aber man kann auch zunehmend empfinden, wie ein Mitschwingen mit der natürlichen und der seelisch-geistigen Umgebung eine stärkende Kraft entstehen lässt. Das Miterleben der Natur in Verbindung mit dem christlichen Jahreslauf im Seelenkalender ist an die Situation auf der Nordhalbkugel gebunden.

Es gibt zu jedem der Sprüche einen Spruch, der genau um 26 Wochen verschoben das Erleben der anderen Jahreszeit auf der Südhalbkugel möglich macht.

Zum Autor: Christian Boettger war Mathematik- und Physiklehrer an der FWS Karlsruhe und FWS Schopfheim; heute Geschäftsführer im Bund der Freien Waldorfschulen und der Pädagogischen Forschungsstelle.