Unterricht ist Rhythmus

Tomáš Zdražil

Viele Eltern verzweifeln schier daran, ihre Kinder zum Aufstehen zu motivieren, um im Homeschooling-Modus zu lernen.

»Heute ist Mondwoch, der 47. März.« Man steckt in der frustrierenden Gegenwart, dem ewigen Jetzt, der Zeitlosigkeit fest. Die einzige Möglichkeit besteht darin, aus sich selbst heraus die Zeitstruktur zu bestimmen. Die Kinder, teilweise auch die Jugendlichen, sind jedoch zu dieser Leistung noch nicht imstande, sie brauchen einen sozialen Raum, die Schule, und damit den äußeren Halt des Unterrichts als Rhythmus- und Zeitgeber. Nach Piaget sind Kinder ab dem Alter von sieben bis acht Jahren zwar imstande, anfängliche Zeiturteile zu fällen, sie sind aber immer noch abhängig vom Rhythmus des sozialen und pädagogischen Zeitrahmens, der sie trägt.

Nehmen wir dieses Corona-Erlebnis zum Anlass, nach den Rhythmen des Unterrichts zu suchen.

Die Waldorfpädagogik regt den Lehrer an, ein feines Gespür für diese Rhythmen zu entwickeln – bis in die psychischen Bewusstseinsrhythmen der Seele hinein. Es ist für Lehrer eine bekannte Erfahrung, dass das Erzählen am Ende des Hauptunterrichts, zum Beispiel im Rahmen einer Geschichtsepoche, für eine Klasse nicht wirklich förderlich ist, sondern dass ein gezeichnetes Bild oder eine kleine schriftliche Betrachtung am Ende besser geeignet sind.

Im Geschichtsunterricht beispielsweise stellt der Lehrer viele Bilder und ideelle Zusammenhänge dar und versucht, die Schüler sowohl zum phantasievollen Nachgestalten der Bilder wie auch zum Mitdenken und Urteilen anzuregen. Man geht als Schüler dabei mit seiner Seele sozusagen aus sich heraus. Das anschließende Zeichnen harmonisiert und führt die Seele wieder zu sich selbst zurück. Der Geschichtsunterricht trägt somit etwas Chorisches, das Zeichnen etwas Solistisches in sich.

Anders sieht die Sache beim Rechnen aus. Das Rechnen konfrontiert den Schüler ganz mit sich selbst, es individualisiert. Am Ende einer Recheneinheit passt deshalb eine erzählte Geschichte sehr gut. Wer einer Geschichte zuhört, wird von sich selbst abgelenkt, er öffnet sich dem Gemeinschaftlichen – das gleicht aus. Eine Erzählung wirkt hier als hygienisches Mittel, das die Schüler entspannt und friedlich in die Pause entlässt und sich sogar positiv auf den nachfolgenden Unterricht auswirkt.

Im Unterrichtsgeschehen zieht der Lehrer auf der einen Seite durch das gesprochene Wort, durch seine Darstellungen die Aufmerksamkeit der Klasse auf sich. Es geht dabei um ein wichtiges, jedoch nicht das einzige Element des Unterrichts. Der Unterricht soll nicht nur durch die Darstellung des Lehrers, sondern auch aus dem Gespräch mit der Klasse entwickelt werden. Das Gespräch trägt ohnehin als Form einer gesteigerten gegenseitigen Wahrnehmung rhythmische Qualität in sich: Ich sehe jemanden, höre ihm zu, lasse mich auf ihn ein und folge ihm. Dann komme ich zu mir zurück, denke nach und spreche. Das Gespräch ist immer eine rhythmische Pendelbewegung zwischen einer mehr träumend-zuhörenden und einer wachend-sprechenden Tätigkeit.

Auf der anderen Seite stehen die Anregungen des Lehrers zum individuellen Arbeiten, insbesondere durch das Schreiben, Zeichnen und bildnerische Gestalten, das seinen Niederschlag in den Epochenheften findet. Wie lässt sich ein gesunder Übergang vom Abschreiben der Tafel oder der kopierten Blätter zu selbst verfassten Texten der Schüler gestalten? Wie kann man durch eigene Schreibversuche die Individualisierung und Kreativität der Schüler fördern?

Ein Hin und Her dieser beiden Elemente und Ansätze – des betrachtenden und des selbsttätigen Elements – sorgt für ein gutes und gesundes Lernklima in der Klasse. Die Aufgabe des Lehrers ist die eines Choreographen, eines Zeitkünstlers, der aus der Einsicht in die Doppelheit des inneren und des äußeren Menschen die Unterrichtszeit rhythmisch gestaltet.

Eine grundlegende Polarität findet sich in den sogenannten Morgensprüchen, die von den Kindern und Jugendlichen jeden Tag gesprochen werden. Sie weisen auf diesen Doppelaspekt hin – auf die Bildung des Körpers und der Seele – auf das »Arbeiten« und das »Lernen«:

Im Morgenspruch der Unterstufe heißt es: »…, dass ich kann arbeitsam und lernbegierig sein« und in der Mittel- und Oberstufe, dann: »…, dass Kraft und Segen mir zum Lernen und zur Arbeit …«

Die Schüler »arbeiten«: Damit ist körperliche Aktivität gemeint und ihre sinnvolle Einbindung in einen sozialen und ökologischen Lebenszusammenhang. Dazu gehören aber auch alle künstlerischen Fächer und Tätigkeiten, wie Musik, Eurythmie, Malen, (Formen-)Zeichnen, Plastizieren, Werken, auch das Turnen und die Hand- und Gartenarbeit sowie das Schreiben und ein wesentlicher Teil des Rechnens und der Geometrie.

Die Schüler »lernen«: Damit wird auf die Bildsamkeit ihrer Seele hingewiesen, auf die interessierte Beziehung zur Welt und das allmähliche Verstehen ideeller Zusammenhänge. Eine aktive wahrnehmende Tätigkeit der Schüler wird z.B. durch das Hören von Geschichten, aber auch durch solche Fächer wie Geschichte, Geografie, Naturkunde, Physik und Chemie, gegebenenfalls auch Religion und natürlich das Lesen, angeregt.

Der Aspekt der »Arbeit« steht im Morgenspruch der Unterstufe an erster Stelle, ab der Mittelstufe steht in dem Spruch das »Lernen« vor dem Arbeiten. Ist das nicht ein interessanter Hinweis darauf, dass der leiblichen Tätigkeit in der Unterstufe eine besondere Bedeutung zukommt und später die seelische Bildung in den Vordergrund tritt? Jedoch stehen die beiden bildenden Ansätze in der Schulzeit stets geschwisterlich nebeneinander und ergänzen sich gegenseitig: »Ich will lernend arbeiten, ich will arbeitend lernen« (R. Steiner). Die Seele soll nicht ohne den Leib lernen, der Körper soll nicht seelen- und geistlos tätig sein.

Dabei entfalten sich die kognitiven Lernprozesse in einem breiteren Rahmen psychischer und physiologischer Vorgänge, ohne deren Berücksichtigung ein rein kognitives schulisches Lernen zum stressauslösenden gesundheitlichen Risikofaktor wird. Das Lernen und die Belastbarkeit der Schüler unterliegen tagesrhythmischen physiologischen Schwankungen. Es sind die Morgen- und Vormittagsstunden, in denen z.B. die Körpertemperatur, elektrischer Hautwiderstand oder Blutzuckerspiegel ansteigen. So steigt auch die Rechengeschwindigkeit im Laufe des Vormittags an und die Merkfähigkeit des Kurzzeitgedächtnisses ist offenbar besser, wenn der Stoff am Morgen aufgenommen wird.

Der bedeutendste Rhythmus im Leben und auch im Lernen eines Menschen ist der Rhythmus von Wachen und Schlafen. Rudolf Steiner spricht von ihm als dem Rhythmus des menschlichen Ich. Der Hauptunterricht an der Waldorfschule sorgt dafür, dass ein Themenfeld über einen längeren Zeitraum jeden Tag zu gleicher Zeit behandelt wird. Das Kind kann sich in einen Bereich immer mehr vertiefen und sich durch die Beschäftigung organisch Erkenntnisse und Fähigkeiten aneignen.

Der Hauptunterricht kann aber auch das oft zu rasche, ja bulimische Tempo schulischer Wissensvermittlung entschleunigen und eine selbstständige, mehr individuelle Gedankenbildung anregen. Er kann den Rhythmus von Wachen und Schlafen einbeziehen und dadurch die Wirksamkeit des Lernprozesses steigern, indem zuallererst das vollumfängliche Eintauchen des Kindes in die neue Thematik angestrebt wird, deren Verbindung mit dem ganzen Menschen und dem Leib in der Bewegung, im schöpferischen Gestalten und im Wahrnehmen durch alle Sinne. Nach dieser ersten, aber intensiven Annäherung kommt in einem zweiten Schritt noch in der gleichen Hauptunterrichtseinheit eine erste Reflexion über die Begegnung mit dem Neuen, ein Sortieren der wesentlichen und der weniger wesentlichen Erlebnisse und Aspekte, vielleicht auch ein schriftliches Festhalten der Quintessenz. Erst nach dem Ende des Hauptunterrichts, nach dem Loslassen, Vergessen und Überschlafen der Eindrücke und Erfahrungen, kommt es am nächsten Tag oder in den nächsten Tagen zu einer durch den Abstand vertieften und durch das Vergessen befruchteten gedankliche Verarbeitung und Ideenbildung. Das Loslassen und Vergessen ist gleichsam der Verdauungsteil des Lernvorgangs. Lernen lässt sich so als seelisch nährender und rhythmischer Lebensprozess verstehen.

Dadurch tritt eine Harmonisierung des Körperlichen und Seelischen, aber auch der verschiedenen Seelenkräfte des Schülers ein. Voraussetzungen dafür sind ein lebendiges Interesse und Verständnis für die vielschichtige Komplexität des Kindes. Das Menschenwesen ist von den unterschiedlichsten Rhythmen durchwirkt, die diese polaren Prozesse vermitteln und synchronisieren. Der ganze Mensch ist auf Rhythmus angelegt, alle Seelenvorgänge beruhen auf rhythmisch verlaufenden Lebensprozessen. Das bewusste Einbeziehen dieser Rhythmen in den Unterricht harmonisiert und stärkt. Es besteht die Hoffnung, dass ein solches Unterrichten die Schüler immer mehr befähigt, autonom und eigenverantwortlich die Zeitstruktur des Lebens und des Arbeitens zu führen, eine Fähigkeit, die angesichts der technischen und sozialen Entwicklung unserer Lebenswelt gerade sehr aktuell zu werden scheint.

Zum Autor: Dr. Tomáš Zdražil ist Professor an der Freien Hochschule Stuttgart