Rhythmus macht gesund

Matthias Girke

Medikamente können abhängig von der Tageszeit anders wirken, so die Chronopharmakologie, die die periodisch wiederkehrenden und vorhersagbaren Schwankungen der Wirkung von Arzneimitteln untersucht. Krankheiten machen sich zu unterschiedlichen Zeiten des Tages besonders deutlich bemerkbar und ein fehlender Tagesrhythmus wirkt sich ungünstig auf unsere körperliche und seelische Befindlichkeit aus.

Unser Wachbewusstsein ist von einem 90-Minuten-Rhythmus geprägt, der als basaler Ruhe-Aktivitätsrhythmus bekannt ist und im Hauptunterricht an Waldorfschulen berücksichtigt wird.

Rhythmen sind nicht gegenständlich fassbar, sie verlaufen in der Zeit, sind also eigentlich ein »übersinnliches« Phänomen, das sowohl mit den Lebensprozessen als auch mit dem seelischen und geistigen Wesen des Menschen verbunden ist. Sie kennen keine Mechanik im Sinne der Wiederholung des Gleichen, sondern sind beweglich, anpassungsfähig und flexibel wie das Leben selbst.

Rudolf Steiner beschreibt neben dem Nerven-Sinnes-System und dem Stoffwechsel-Gliedmaßensystem des Menschen das Rhythmische System als eigenständige Entität, das er mit dem seelischen Wesen des Menschen, vor allem mit seinem Fühlen in Beziehung bringt. Die einzelnen rhythmologischen Funktionen des menschlichen Organismus, die wir von der Zelle ausgehend bis zum Gesamtorganismus beschreiben können, sind aufeinander abgestimmt und verlaufen nicht unabhängig voneinander. Wie sich die einzelnen Organe des physischen Körpers zu einem räumlichen »Ganzen« des Organismus zusammenfinden, so die in der Zeit ablaufenden Rhythmen des Organismus zu seinem rhythmischen Gesamtsystem. Fällt das System auseinander, erkrankt der Mensch.

Umgekehrt geht die Rhythmisierung mit Gesundung einher. So kann ein rhythmisch gestalteter Alltag gesundend wirken.

Rhythmus verbindet Bewusstes mit Unbewusstem

Rhythmen entfalten sich zwischen Ruhe und Bewegung, zwischen Maxima und Minima funktioneller Aktivität der Leiblichkeit. Rhythmen bilden nicht nur physiologische Veränderungen von Organfunktionen ab, sondern stehen auch mit dem seelischen und geistigen Wesen des Menschen in Beziehung. Auf der einen Seite entwickeln sich Bewusstseinsprozesse auf der Grundlage des Nerven- und Sinnes-Systems, auf der anderen die unbewussten Stoffwechselprozesse und die Bewegung. Beide funktionellen Ausrichtungen werden durch das Rhythmische System verbunden. Mit jeder Einatmung ist ein kleines »Wachwerden« verbunden, mit der Ausatmung ein Loslassen und minimales Einschlafen. Der erste und der letzte Atemzug verdeutlichen die Verbindung des seelisch-geistigen Wesens mit dem Leib und dessen Loslösung. Die medizinischen Bezeichnungen der Inspiration (erster Atemzug) oder auch Exspiration (letzter Atemzug) geben diesen Bezug treffend wieder.

Der Atem- und der Herzrhythmus sind besonders bekannte Rhythmen, doch alle Organe sind physiologisch dann gesund, wenn sie rhythmisch funktionieren.

Rhythmisches Zusammenspiel

Die Rhythmen im menschlichen Organismus umfassen unterschiedliche Zeitspannen. Der zunächst auffälligste Rhythmus ist der Tag- und Nacht-Rhythmus, das heißt, das Wechselspiel zwischen Wachen und Schlafen. Die Temperatur des Körpers variiert und erreicht ein Maximum gegen 18 Uhr. Unser Wohlbefinden ist von diesem Wärmerhythmus bestimmt, und wir können nur dann gut einschlafen, wenn die Körpertemperatur am Abend sinkt und gut aufwachen, wenn sie am Morgen wieder steigt. Innerlich erleben wir diesen Unterschied in unserer geistig-seelischen Verfassung: Am Morgen können wir uns besser konzentrieren und kognitive Leistungen fallen uns leichter. Erst im Laufe des Tages entwickelt sich unsere volle Willensaktivität und Handlungsbereitschaft. Gegen Abend öffnet sich die Seele dem Künstlerischen und der Phantasie – dem fühlenden Bereich.

Auch Krankheiten kennen eine Tagesrhythmik: Am Morgen entwickelt der Organismus die Tendenz zur Verhärtung. Der rheumakranke Patient erlebt die Morgensteifigkeit seiner Glieder, der depressiv Erkrankte das Morgentief. Auch Herzinfarkte sind in den frühen Morgenstunden häufiger. Gegen Abend lassen viele Beschwerden mit der sich entwickelnden Wärme im Organismus nach. Beim depressiven Patienten hellt sich die Stimmung oftmals auf und auch der Rheumakranke kann sich etwas besser bewegen. Das Spektrum zwischen entzündlichen und sklerotisierenden Krankheitsprozessen, wie es sich im Laufe des Lebens zwischen Kindheit und Alter entwickelt, wird andeutungsweise schon im Verlauf eines Tages durchlebt. Es gibt auch langwellige Rhythmen wie die Sieben-Tages-Rhythmik. Manche Kinderkrankheiten, wie zum Beispiel Masern, folgen dem Wochenrhythmus und stehen mit dem seelischen Befinden in Zusammenhang, das sich im Laufe der Woche verändert. Auch die Schlafqualität unterliegt einem Wochenrhythmus. Dabei soll die Schlafqualität in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend am besten sein. Während der Tagesrhythmus mit der Ich-Wirksamkeit verbunden ist, steht der Wochenrhythmus mit Veränderungen im seelischen Erleben und Empfinden in Zusammenhang. Der Monats- oder Vier-Wochen-Rhythmus zeigt sich in zahlreichen Lebens- und Reproduktionsprozessen des Organismus. Neben dem Menstruationszyklus ändert sich in diesem Rhythmus die Natriumausscheidung des Menschen. Selbst Jahresrhythmen prägen den Organismus, bestimmte Krankheiten häufen sich jahreszeitlich. Die Knochen zum Beispiel sind im Sommer dichter als im Winter. Die Typ-1-Diabetes zeigt sich vor allem im Winter. Die Schilddrüsenüberfunktion tritt je nach Jahreszeit unterschiedlich häufig auf. Der physische Organismus ist mit diesen langwelligen Rhythmen verbunden. Die Lebensprozesse haben in den genannten Beispielen einen monatlichen Rhythmus, das seelische Befinden ist vornehmlich vom Wochenrhythmus abhängig und die Tagesaktivität der Persönlichkeit schwingt in Tag- und Nacht-Rhythmen.

Ein gestörter Rhythmus macht krank

Zahlreiche Erkrankungen gehen mit Einschränkungen und Störungen des Rhythmischen Systems einher. So engt sich die Variabilität der Herzfrequenz bei vielen Herz-Kreislauferkrankungen ein. Das gesunde Schwingen des Herzrhythmus mit der Atmung wird starr. Ähnliche Befunde können bei Patienten mit Diabetes mellitus auftreten. Therapeutisch muss deshalb neben der medikamentösen Therapie besonders auf die rhythmischen Prozesse geachtet werden. Zwischenzeitlich ist nachgewiesen worden, dass die Heileurythmie die Herzfrequenzvariabilität verbessern kann. Es ist bekannt, dass ein zu langes Wachsein mit Veränderungen des Liquors (Nervenwassers) einhergeht, wie sie auch bei der Alzheimer-Demenz gefunden werden (erhöhte Konzentration des beta-Amyloids). Diese funktionellen Veränderungen können durch den Schlaf wiederum ausgeglichen werden. Ein ausgewogener Rhythmus zwischen Schlafen und Wachen fördert die Gesundheit des Nervensystems und damit der Bewusstseinsfunktionen. Angesichts unseres westlichen Lebensstils mit weitgehend sitzender Tätigkeit, Überflutung mit Information und viel zu früher Intellektualisierung der Kinder sind diese Gesichtspunkte von großer Bedeutung und haben lebenslange Konsequenzen. Sowohl der zu kurze als auch der zu lange Schlaf hat negative gesundheitliche Auswirkungen. Rudolf Steiner hat darauf hingewiesen, dass der Schlaf uns zwar in der Regel erfrischt, eine zu lange Schlafenszeit aber auch krank machen kann. Die negativen Auswirkungen eines durch Hypnotika (Schlafmittel) erzeugten Schlafes auf die Gesundheit (Herzkreislauferkrankungen, Mortalität, Krebs) sind gut dokumentiert.

Rhythmus heilt

Das Rhythmische System des Menschen steht mit den Rhythmen der Natur und des Makrokosmos in Zusammenhang. Die Tag-Nacht-Rhythmen werden vom Gang der Sonne bestimmt, in den Monatsrhythmen spiegelt sich die Beziehung zum Mond, wie zum Beispiel in der lunaren Periodik der Netzhaut: Jeder Mensch ist um den Vollmond herum mehr rot- als blauempfindlich.

Der unmittelbare Zusammenhang des Menschen mit seinem Umkreis hat sich jedoch immer mehr gelöst. Das Rhythmische System hat sich individualisiert, was mit der Ich-Entwicklung des Menschen zusammenhängt. Während es durch die Autonomisierung und Störungen rhythmischer Prozesse zu Einschränkungen und sogar Erkrankungen kommen kann, unterstützt die Rhythmisierung des Alltags Gesundungsprozesse. Für Prävention und Therapie vieler Erkrankungen ist die Rhythmisierung des Lebens eine wichtige Voraussetzung und Gegenstand zahlreicher ärztlicher Gespräche. Wenn der Mensch in den Schlaf eintritt, harmonisiert sich sein Rhythmisches System. Beispielsweise kann sich ein stabiler Eins-zu-Vier-Rhythmus zwischen Atmung und Herzfunktion einstellen. Eine ähnliche Möglichkeit ergibt sich durch die innere Entwicklung: Wenn es gelingt, Augenblicke innerer Ruhe zu schaffen, kann sich das Rhythmische System harmonisieren und den Organismus heilen.

Die innere Arbeit des Menschen hat deshalb nicht nur eine Bedeutung für seine geistige Entwicklung, sondern auch für seinen Leib. Die aktive Verbindung mit geistigen Inhalten heilt den Organismus. Diese für den Erwachsenen geltenden Zusammenhänge betreffen in verstärktem Maße auch das Kind. Es braucht die Pflege seines Rhythmischen Systems durch einen gesunden Wechsel zwischen Wachen und Schlafen, zwischen kognitiver und körperlicher Aktivität, zwischen einem gesunden Atmen mit der Welt in der Öffnung des Interesses zum Umkreis und innerlich erfüllten Augenblicken des Bei-sich-Seins.

Zum Autor: Dr. Matthias Girke ist Leiter der Medizinischen Sektion am Goetheanum