Der Halbbart

Georg Dreißig

Und siehe da: Plötzlich ist das ganze dicke Buch durchgelesen. Dazu fließt der Text so leicht und selbstverständlich dahin, dass man in seinen Erzählstrom ohne großes Nachdenken eintaucht, und dabei die Verhältnisse des 14. Jahrhunderts durch die Erfahrungen und Gedanken des jungen Bauernbubs Sebi so hautnah miterlebt, als stünde man selbst mitten drin. Das ist freundlich und schrecklich zugleich, aber in der Schilderung des Jungen ist die Darstellung der damaligen Verhältnisse ganz gewiss weit leichter zu verkraften, als wenn der »Halbbart« – der Autor macht ihn zum Erfinder der »Halbbarte«, der Hellebarde – uns die Zustände jener Zeit schildern würde, die ihn selbst schwer gezeichnet und ihm das Leben vergällt haben.

Die Erzählung entführt den Leser in die Gesellschaft von Menschen in einem kleinen Dorf im Kanton Schwyz, die des Lesens und Schreibens unkundig sind und sich ihren Lebensunterhalt mit eigenen Händen meist mühselig erarbeiten müssen. In ihrer Ungebildetheit sind sie der Wirkung der Geschichten vom Teufels-Anneli, die in dem Roman eine wichtige Rolle spielt und schließlich zur Lehrerin Sebis wird, schutzlos ausgeliefert. Schutzlos sind sie aber auch den unsinnigsten Gerüchten gegenüber, die sich unversehens wie Teufel in sie einnisten und sie rasch zum Bösen verführen. Das Teilhaben an dem Erschütternden und Grausamen jener zu Ende gehenden Zeit, als eine machtbesessene Kirche und ein sich selbst vergottender Adel noch fraglos und nach eigenem Gutdünken regierten und die Menschen dieses Joch tragen mussten, wird durch die kindliche Art des Erzählers Sebi gemildert. Zunächst ist der Junge ganz selbstverständlich in den Vorgaben der Kirche verwurzelt, beginnt aber auch, vorsichtig Fragen an das zu stellen, was der Priester in seiner Predigt verkündet. Aber der Widerstand gegen die Herrschaft von Kirche und Adel regt sich – das ist die eigentliche Geschichte hinter dem in leichtem Ton Erzählten – und bricht sich manchmal gewalttätig Bahn – etwa in der Plünderung des Klosters, ohne dass in dieser Tat bereits die Absicht, eine wirkliche Änderung zielvoll herbeizuführen, erkennbar werden. Ganz ähnlich gewalttätig geht es auch zu, wenn zum Gaudi des Volkes Menschen zur Schau gestellt und gequält werden, oder ein Bein ohne Narkose zu amputieren ist. Die Seelen sind leicht erregbar, wallen auf und kommen wieder zur Ruhe und wollen im Nachhinein schier nicht wahrhaben, was auch durch sie selbst geschehen ist.

Ein besonderer Griff gelingt dem Autor am Schluss seines Buches. Hat man den Roman zu Ende gelesen, bemerkt man plötzlich überrascht: Wie es weitergehen wird, weiß ich ja schon. Was da im letzten, dem 83. Kapitel erzählt wird, ist gar nicht das Ende der Handlung; das wirkliche Ende war bereits im 73. Kapitel zu lesen, da galt es allerdings noch als Lügengeschichte. Beides allerdings sind keine guten Enden im Sinne eines »Und wenn sie nicht gestorben sind ...«

Man wird die genial geschriebene Lektüre nicht so leicht wieder vergessen können. Lewinsky muss wohl selbst bei der Teufels-Anneli in die Lehre gegangen sein.

Charles Lewinsky: Der Halbbart. Roman, 677 S., geb., EUR 26,–, Diogenes Verlag Zürich 2020