Durchsäuerte Luft

Georg Dreißig

Erinnerungen an ihre eigenen Erfahrungen steigen auf. Die alten Bilder, die alten Gerüche und vertrauten Geräusche, das ständige hintergründige Brummen und der zähe, weiße Schnee aus den Schloten des Industrieparks, der dauerhafter ist als der gewöhnliche. Aber es ist kein freudiges Wiedererkennen. »Es kommt mir vor, als müsste hinter jeder Fassade der Tod lungern, müssten hinter den dunklen Fenstern Krankenbetten mit Dahinsiechenden verborgen sein.«

Nicht nur das Außen meldet sich zurück, auch die innere Haltung des Kindes, das nicht auffallen wollte, greift wieder nach ihr und erhebt Anspruch auf Befolgung: »Auch mein Gesicht verändert sich am Ortsschild, versteinert zu dem Ausdruck, den mein Vater mir beigebracht hat ...« Das ist das eigentliche Thema des Romans. Die junge Autorin führt in den Bereich hinter dem Schleier von Konvention und Gutmeinen, erzählt die von schulterzuckenden Vorurteilen und verletzenden Achtlosigkeiten durchzogene Geschichte eines Mädchens, das in einer Atmosphäre von Ablehnung und Standesdünkel zu ersticken droht. Am Schulsystem eigentlich gescheitert, durch alle Raster gefallen, kann sie als Jugendliche doch den Mut und die Kraft in sich mobilisieren, die notwendigen Schritte zu tun, um ihr eigenes Leben anzutreten. Die Mutter stammt aus einem kleinen türkischen Dorf, das sie aus Sehnsucht nach Freiheit verlassen hat. Der Vater ist einfacher Arbeiter, verwurzelt in dem Ort, an dem die Erzählung spielt, und gefesselt in die Abläufe, wie sie immer schon gewesen sind, ein Sammler von wohlfeilen Nichtigkeiten, von denen er sich nicht trennen kann. Deutlich haben sich Spuren dieser Abstammung nicht nur in das Gesicht, sondern auch in die Anschauungen und Verhaltensweisen des Kindes eingeprägt.

Wie stark Kindheitserfahrungen sich in der Seele einnisten können und die Ängste und Fehlurteile Geltung behalten bis in eine Zeit hinein, in der sie eigentlich gar keine Bedeutung mehr haben sollten, wird schmerzhaft nüchtern herausgearbeitet. Selbst als sie studiert hat und Akademikerin geworden ist, leben die Gefühle der eigenen Wertlosigkeit und die Gewissheit des eigenen Unvermögens in der Seele der Erzählerin massiv fort. Am Ort ihrer Kindheit aber werden sie wieder zur überwältigenden Gegenwart, dass diejenige, die sie inzwischen geworden ist, davon völlig ausgelöscht wird. In dem Roman erfahren wir nichts von ihr. Schließlich bleibt ihr nur die rasche Flucht aus der von Chemieabgasen und Kindheitsenttäuschungen durchsäuerten Luft ihres Geburtsortes in ihren neuen Lebensumkreis.

Dem Leser bleibt diese Flucht verwehrt. Die Spuren des geschilderten Schicksals ätzen sich in sein Bewusstsein ein und wecken Fragen. Sind wir wach für die eigenen unreflektierten Urteile, offen für den Menschen neben uns und aufmerksam für die Atmosphäre, die wir ihm mitbereiten?

Ein lesenswertes Buch über eine Traurigkeit, die zu unserer Gegenwart gehört und die uns helfen kann, zu verstehen, was die Lebenswirklichkeit des Anderen ist.

Deniz Ohde: Streulicht. Roman, geb., 285 S., EUR 22,–, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020