Grenzfragen

Johannes Roth

Die Londoner Familienrichterin Fiona Mayer hat als ihren gegenwärtig kompliziertesten Fall den eines krebskranken Jungen: Seine Eltern lehnen als Zeugen Jehovas die Zustimmung für eine lebensrettende Bluttransfusion ab, die Klinik hingegen möchte sie gegen deren Willen durchführen. Der Patient selber sperrt sich, vertritt die Position seiner Religion; zudem wird geltend gemacht, dass er ohnehin fast das Alter erreicht habe, von dem an er frei entscheiden kann. Die Richterin beschleichen Zweifel, ob er dabei wirklich frei ist. Unterdessen ist die Endfünfzigerin ihrerseits mit der Aussicht auf das Ende ihrer Ehe konfrontiert, da ihr Mann ihr kürzlich seine Absicht erklärt hat, in der Beziehung zu einer jüngeren Frau neuerliche Erfüllung zu suchen … Fiona kann darin nichts weiter als rücksichtslose Egozentrik sehen.

Der Autor Ian McEwan versteht es, die beiden Stränge zu verbinden, wie in unserem Seelenleben die Dinge immer verwoben sind und sich wechselseitig fordern. Mit dem Titel »Kindeswohl« gibt er ein Hauptthema vor, aber im Grunde geht es darum, wie die Verantwortung die Hauptfigur mehr und mehr aus ihrer Selbstbezogenheit und Routine löst, wie sich bewahrheitet, dass das Schicksal denen hilft, die entschlossen handeln. Am Ende hat Fiona dem Patienten zu einem bedeutenden Schritt in seiner Selbstbildung verholfen – und ihr selbst tun sich durch Selbsterkenntnis neue Aussichten auf, durchaus unverhoffte – ohne jedes billige Happy End. Besonders meisterhaft ist, wie McEwan intime Vorgänge lebensnah und doch mit dem gebotenen Abstand beschreibt, wie er zudem differenziert mit dem sensiblen Thema der Religionsfreiheit umgeht. Dieser gelungene Roman bietet vielfache Anregungen zum Nachdenken!

Ian McEwan: Kindeswohl, Hardcover Leinen, brosch., 222 S., EUR 22,–, Diogenes Verlag, Zürich 2016

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