Roman der »Augsburger Puppenkiste«

Georg Dreissig

Hatü steht bereits als junges Mädchen neben ihrem Vater Walter Oehmichen auf der Spielbrücke des Marionettentheaters, das sie nach dem Krieg (als Hannelore Marschall, geb. Oehmichen) bis zu ihrem Tod 2003 leiten und für das sie unzählige Puppen schnitzen wird. Wie schön und einfühlsam wird das geschildert, wie viel Begeisterung der Heranwachsenden vermittelt, wie viel Bereitschaft – weil das Alte zerstört worden ist, weil die Zeiten sich ändern –, immer wieder neu, immer wieder anders ans Werk zu gehen!

In diesen in hoffnungsfrohem Blau gedruckten Lebensabriss einer jungen Frau, der damit beginnt, dass der Vater als Soldat eingezogen wird, lässt der Autor aber noch eine ganz andere Schilderung einfließen. Sie ist rot gedruckt und lässt das Abgründige, das mit dem Entstehen der Puppenkiste zu tun hat – die Nazizeit, Judenhass und Judenverfolgung, Krieg und eigenes Schuldigwerden –, in die nette Geschichte des jungen Mädchens beängstigend hereinwettern. Dafür lässt Hettche die Puppen, unter ihnen auch Hatü als Marionette, mit einem namenlosen zwölfjährigen Mädchen, einer Zuschauerin aus der heutigen Zeit, ins Gespräch kommen. Das ist seinem Vater davongelaufen und findet sich unvermittelt auf einer anderen Ebene über dem Bühnenraum: einem unheimlichen Dachboden in Gesellschaft der zahlreichen Marionetten. Es selbst ist dabei auch auf die Größe einer Marionette geschrumpft – alle sind auf Augenhöhe, würde man heute sagen. Hier droht in der Figur des Kasperls Unerlöstes, das nicht von Hatü, sondern nur von ihren Nachgeborenen aufgelöst werden kann. Mit Hilfe der Phantasiegestalten Jim Knopf, dem Urmel und Kalle Wirsch, dem König der Erdmännchen, gelingt das dem Mädchen. Danach kann es auch wieder den Weg hinunter in ihre Welt und zu ihrem Vater finden.

Das Thema des Romans verdichtet Hettche in einem Wort: »Herzfaden«.  Der sei, wie Walter Oehmichen seiner Tochter erklärt, »der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht.«

In blutroter Farbe flicht der Autor ihn in seine schöne Geschichte ein, die sich dadurch auch am Herzen des im Dunkel verlorenen Mädchens bzw. des Lesers festmacht.

Thomas Hettche, Herzfaden. Roman, 27 Zeichnungen von Matthias Beckmann, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 280 Seiten, 24,00 €