Rudolf Steiner als Landwirt

Johannes Kiersch

Er selbst führt das auf die körperliche Arbeit zurück, die er als Knabe daheim im Garten und auf dem Acker zu leisten hatte. Aber auch theoretisch kannte er sich aus. In seinem Basiskurs für Landwirte spricht er über Schädlinge wie die Rübennematode, über den Kieselsäuregehalt des Ackerschachtelhalms, über Ätzkalk im Kompost: Man glaubt ihm gern, wenn er dabei betont, er sei »herausgewachsen so recht aus dem Bauerntum«. Auf dieser lebenspraktischen Grundlage beruhen die Ideen, mit denen Steiner ein ökologisches Projekt von beträchtlicher Breitenwirkung in Gang gesetzt hat: die »biologisch-dynamische« Landwirtschaft. Was bedeutet das für die Waldorfpädagogik? 

Der »Landwirtschaftliche Kurs« in Koberwitz bei Breslau fand im Sommer 1924 statt, fast fünf Jahre nach der Begründung der ersten Waldorfschule und weniger als ein Jahr vor dem Tode Steiners. Alles blieb dort nur eine erste Skizze, ein kühner Entwurf, ausgeführt aber mit einer gedanklichen Souveränität, die auch vieles, was Steiner über Erziehung und Unterricht vorgebracht hat, auf ein neues Niveau hebt. Wie Steiner  damals die aktuelle Situation der auf wissenschaftlicher Grundlage industrialisierten Landwirtschaft durchschaut und wie er damit umgeht, das wünschte man sich heute für die rationale Bewältigung der Probleme unseres kranken Schul- und Hochschulwesens. 

Die Folgen des technischen Fortschritts 

Steiner war bekanntlich kein Feind des Materialismus, kein Feind der modernen Technik. Beides hielt er für his­torisch notwendig. Aber er sah zugleich, dass die zugrunde liegende Denkweise extrem einseitig und infolge dessen an so mancher Stelle schädlich war. Der technische Fortschritt hatte die vielseitige Welt naiver Lebenser­fahrung, von der die Landwirtschaft noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zehren konnte, diskreditiert. Als wissenschaftlich gesichert galt, wie in allen Gebieten des praktischen Lebens, nur noch, was streng kausalanalytisch ermittelt werden konnte, nach dem Vorbild einer mathematisierenden Physik als Leitwissenschaft. Als real wurde nur noch betrachtet, was durch den Tastsinn, durch Zahl, Maß und Gewicht erfasst wird. »Seele« und »Geist«, aber auch alle atmosphärischen Qualitäten, die Farben zum Beispiel, wurden zur subjektiven Illusion.

In der Landwirtschaft waren die Wirkungen dieser Denkweise schon nach wenigen Jahren nicht zu übersehen. Heute haben sie ein ungeheuerliches Ausmaß ange­nommen. Wer als Bauer überleben will, muss sich spezialisieren. Der eine produziert Tausende von Hühnern in Lege-Batterien, der andere Schweine oder Puten in fenster­losen Großställen mit automatischer Kraftfutterzufuhr; der eine baut nichts als Mais an, der andere Raps. Kunstdünger, Pestizide, gentechnisch manipuliertes Soja zur Wachstumsbeschleunigung müssen von außen zugekauft werden. Handarbeit ist zu teuer; also wird kostenträchtig automatisiert. Jede Maßnahme ist, für sich allein gesehen, betriebswirtschaftlich rational begründet. Man kann die Produkte zählen und wiegen. Wo es irgend geht, werden sie kostengünstig normiert. Aber die Höfe veröden, der Boden erodiert, die Vielfalt der Pflanzen und Tiere im Umfeld geht zurück, ein Übermaß an Kunstdünger ruiniert das biologische Gleichgewicht in Flüssen und Meeren. Die Kosten dafür tragen andere. 

Ganzheitliches, statt lineares Denken 

Das lineare Denken, das hier zugrunde liegt, führt zu merkwürdigen Feindbildern, ganz ähnlich wie in der Schulmedizin der Gegenwart, wo alles Schädliche bekämpft werden muss: Bakterien durch Antibiotika, Tumore durch Bestrahlung oder mit dem Messer, Kopfschmerzen durch Aspirin, unerwünschte Fruchtbarkeit durch die Pille. So muss auch in der Landwirtschaft Unkraut ausgerottet, müssen Schädlinge durch Gift vertilgt werden. Anders bei Steiner. Bei ihm ist das Böse nicht der Feind des Guten wie bei George W. Bush. Der große Gedanke, mit welchem die Anthroposophie der traditionellen Ethik eine eminent fruchtbare Neuorientierung gibt, sieht das Gute als ein prekäres, immer wieder neu herzustellendes Gleichgewicht zwischen zwei extremen Zuständen oder Tendenzen an. Wenn Steiner von »Luzifer« und »Ahriman« redet, setzt er nicht an die Stelle des einen Teufels der christlichen Tradition zwei neue, sondern er macht uns darauf aufmerksam, wie wir als moderne Menschen überall in Kampf­feldern einander widerstrebender Kräfte stehen und uns mit behutsamer Besonnenheit darin aufrecht zu halten haben: zwischen Licht und Finsternis, Wärme und Kälte, Leben und Tod. Statt der Feindbilder brauchen wir Verständnis  für das uns umgebende Gewebe polarer Wirkungen, Einflüsse und Absichten.

Man betrachte unter diesem Gesichtspunkt den siebten Vortrag des Landwirtschaftlichen Kurses. Steiner entwirft hier das Bild eines Bauernhofes als Organismus, als lebendiges Gefüge von Wirkungen an einem besonderen Ort, in einer besonderen Landschaft mit speziellen Klima- und Bodenverhältnissen, eigener Flora und Fauna. Er zeigt, wie die landwirtschaftlichen Nutzflächen, Äcker, Gartenan­lagen, Wiesen, in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht werden können, ähnlich dem Zusammenspiel der inneren Organe eines gesunden Menschen. Obstbäume, Sträucher, Hecken wirken dabei als Regulierer. Insekten und Vögel, dazu eine Vielzahl von Lebewesen unter der Erdoberfläche, besonders die Regenwürmer, machen den Boden und alles, was darauf wächst, lebendig und produzieren »seelische« Qualitäten: Duft, Farbe, Aroma. »Gewöhnen Sie sich«, rät Steiner seinen Zuhörern beispielsweise, »den Geruch zu spezifizieren, zu unterscheiden, zu individualisieren zwischen Erdpflanzengeruch und Baumgeruch.« Eine gar nicht besonders große »Aue«, also eine Feuchtwiese mit Büschen, wenn sie mit Pilzen besetzt ist, ziehe Parasiten an, die anderswo schädlich wären. »In der richtigen Verteilung von Wald, Obstanlagen, Strauchwerk, Auen mit einer gewissen natürlichen Pilzkultur« liege das »Wesen einer günstigen Landwirtschaft«, auch wenn dabei die eigentliche Nutzfläche kleiner wird. 

Der Landwirt als Künstler 

Offensichtlich spielen bei all dem ästhetische Qualitäten eine bedeutende Rolle. Wie man solche wahrnehmen lernen kann, ist von maßgeblichen Pionieren der »goetheanistischen« naturwissenschaftlichen Forschung eindrucksvoll geschildert worden. Jede Landschaft, jeder besondere Ort stellen dabei  einzigartige Forderungen. Steiners große Idee des landwirtschaftlichen Betriebs als Individualität, mit weitgehend in sich geschlossenen Stoffkreisläufen, einem in der Haut abgeschlossenen Organismus wie dem des Menschen vergleichbar, fordert das entsprechende Berufsbild des Landwirts als eines sensibel wahrnehmenden, besinnlich forschenden Gestaltungskünstlers.

Und damit sind wir wieder bei der Pädagogik. Der lebendige, aus Wechselwirkungen der Umgebung, des Bodens, der Pflanzen und Tiere immer wieder neu in ein gesundes Gleichgewicht der Kräfte gebrachte landwirtschaftliche Organismus, der schöne Bauernhof, wird uns zum Vorbild für das Ideal der schönen Schule, der Schule mit Festen und Feiern, Musik und Tanz, anspruchsvoller Sprachpflege, Schauspiel, individueller Architektur, stilvollem Mobiliar, einem humanen Umgangston, Geselligkeit auch außerhalb des Unterrichts, Zusammenarbeit mit Eltern und Freunden. Dafür braucht man keine zentralisierte Qualitätskontrolle, wie sie gegenwärtig so überaus populär ist. Benachbarte Schulen können sich, als »critical friends«, in dieser Hinsicht gegenseitig unterstützen. Wir brauchen keine Monokulturen des Lernens mit Oberaufsicht in Brüssel. Steiners schöner Bauernhof lehrt uns, so gesehen, sogar eine zeitgemäße Bildungspolitik.

All das ist pädagogisch ähnlich bedeutend, wie die vielen ökologischen Besonderheiten des Waldorf-Lehrplans, die sich aus den Ansätzen Steiners und der vielerorts engen Symbiose unserer Schulen mit den Betrieben der Demeter-Bauern und -Gärtner ergeben haben. 

Zum Autor: Johannes Kiersch ist Dozent am Institut für Waldorf-pädagogik Witten-Annen. 

Literatur:

Nikolai Fuchs: Was ist biologisch-dynamische Landwirtschaft? Dornach 2010

Herbert H. Koepf, Bodo von Plato: Die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise im 20. Jahrhundert, Dornach 2001

Andreas Suchantke (Hrsg.): Ökologie. Goetheanistische Naturwissenschaft Bd. 5, Stuttgart 1998

Horst Hensel: Die autonome öffentliche Schule, München 1995 

Link: www.schoene-schulen.de