Rudolf Steiners schönstes Geburtstagsgeschenk?
Der Artikel »Waldorf-Hochschulen sind ein Kulturimpuls« (Heft 12/2010) erläutert, dass die Hochschulbewegung der Waldorfschulen laut Berichten aus den Lehrerbildungsstätten einen wichtigen Kulturimpuls darstellten und eine qualitativ hochstehende Lehrerausbildung gewährleisteten. Die Anerkennung der grundständigen Ausbildung zum Waldorflehrer in ihrer Wissenschaftlichkeit durch die Akkreditierung sei – so wird Richard Landl zitiert – das »schönste Geburtstagsgeschenk für Rudolf Steiner«. Diese Ausführungen werfen einige Fragen auf: Was ist überhaupt Wissenschaftlichkeit? Wer verfügt über die Kompetenz, die Wissenschaftlichkeit einer Ausbildung anzuerkennen, und woran ist diese Kompetenz erkennbar? Ist es Rudolf Steiner wirklich um die Anerkennung der Wissenschaftlichkeit seiner Arbeit gegangen? Hat die Akkreditierung der Lehrerausbildung überhaupt noch etwas mit den Intentionen Steiners zu tun?
Steiner hat die gesamte Anthroposophie auf der Grundlage eines neuen (an Goethe orientierten) Wissenschaftsbegriffes errichtet, wie er ihn zum Beispiel in seiner Dissertation »Wahrheit und Wissenschaft« entwickelte. Er hat dies getan, weil er der Auffassung war, dass der herkömmliche, an den Hochschulen vorausgesetzte und gelehrte Wissenschaftsbegriff erstens vollkommen falsch (also unwissenschaftlich) und zweitens in seinen gesellschaftlichen Folgen ruinös sei. Das vom Staat genormte Akkreditierungsverfahren legt aber genau diesen alten, von Steiner für verfehlt gehaltenen Wissenschaftsbegriff zugrunde. Indem sich die Lehrerausbildungsstätten widerspruchslos den vom Staat vorgegebenen Normen anpassen, geben sie ihre eigene Identität auf und machen sich zu Sklaven desjenigen Wissenschaftsbegriffes, zu dessen Überwindung die Anthroposophie gerade angetreten ist. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Etablierung eines neuen Wissenschaftsbegriffes und einer neuen Pädagogik nicht darin bestehen kann, von Vertretern der entgegengesetzten Auffassung als wissenschaftlich anerkannt zu werden. Denn das machte ja nicht mehr die Wahrheit, sondern die Anerkennung zum entscheidenden Kriterium. Beides hat aber nichts miteinander zu tun.
Auf der Grundlage des traditionellen, von Steiner für unwissenschaftlich gehaltenen Wissenschaftsbegriffes formuliert der Staat in seinen Bedingungen für die Akkreditierung der Lehrerausbildung diejenigen Kriterien, deren Umsetzung garantieren soll, dass die Schüler die staatlichen Forderungen erfüllen und zu brauchbaren Staatsdienern werden: »Unser Schulwesen trägt ganz besonders die Charakterzüge an sich, die ein Abbild sind der niedergehenden Strömungen im Kulturleben der gegenwärtigen Menschheit. Die neueren Staatsgebilde sind mit ihrer sozialen Struktur den Anforderungen des Lebens nicht gefolgt. ... Sie haben diese Rückständigkeit auch dem Schulwesen aufgedrückt, das sie ... ganz in Abhängigkeit von sich gebracht haben. Die Schule auf allen ihren Stufen bildet die Menschen so aus, wie sie der Staat für die Leistungen braucht, die er für notwendig hält. In den Einrichtungen der Schulen spiegeln sich die Bedürfnisse des Staates« (Steiner, GA 24, S. 36).
Genau diese Tendenz will die von Steiner begründete Pädagogik umkehren: »Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden? Dann wird es möglich sein, der sozialen Ordnung immer neue Kräfte aus der heranwachsenden Generation zuzuführen« (ebd., S. 37).
Steiners Konsequenz ist unmissverständlich: »Das Heil ... wird erst gefunden werden, wenn vom Lehrer der untersten Schulstufen an bis hinauf zu dem Unterrichtenden an den Hochschulen das gesamte Unterrichts- und Erziehungswesen und das mit ihm zusammenhängende Geistesleben in Selbstverwaltung gestellt ist – nicht in die Verwaltung des Staates! Das gehört zu den großen Abrechnungen, die heute gepflogen werden müssen« (GA 333, 15.11.1919).
Es fehle – so Steiner – die richtige praktische Gesinnung, »wenn diejenigen, die schwärmen für die Ideen der Waldorfschule, nicht einmal soviel Verständnis entwickeln, dass ja dazu gehört, Propaganda zu machen gegen die Abhängigkeit der Schule vom Staat – mit allen Kräften einzutreten, dass der Staat die Schule loslässt. Wenn Sie nicht den Mut dazu bekommen, die Loslösung der Schule vom Staat zu erstreben, dann ist die ganze Waldorfschul-Bewegung für die Katz. Denn sie hat nur einen Sinn, wenn sie hineinwächst in ein freies Geistesleben« (GA 337b, 12.10.1920). Statt die Forderung Steiners nach der Loslösung des Bildungswesens vom Staat konsequent zu verfolgen, soll jetzt umgekehrt die Lehrerausbildung den vom Staat vorgegebenen Kriterien für Wissenschaftlichkeit angepasst werden. Das Streben nach staatlicher Anerkennung verkehrt aber nachweislich die Intentionen Steiners in deren Gegenteil. Was genau sind die Motive, Rudolf Steiner ein solches »Geburtstagsgeschenk« zu überreichen?
Gerhardus Lang, Bad Boll, 15.07.12 13:07
Dass hierzu kein Kommentar abgegeben wurde, ist ein trauriges Zeichen. Ich bin selber nach dem Krieg ab Nov. 1945 auf die Waldorfschule in Hannover gegangen. Ich trat in die 8. Klasse ein. Es war eine wunderbare Schulzeit. Später machte ich auch an der Waldorfschule in Benefeld Abitur, als so genannter Externer.
Vieles, was mein seitheriges Leben bestimmte, fand dort seine Anregung und Begründung.
Auch wenn die Autoren völlig Recht haben mit ihrer vehementen Erinnerung an die Aussagen Steiners und seinen Ausspruch, dass die ganze Waldorfschule für die Katz sei, wenn die Befreiung des Geistes- und des Schulwesens vom Staate nicht durchgeführt würde, so ist doooooooch die Einrichtung der Waldorfschulen auch unter dem Joche der Zwangsabschlüsse ein Segen. Denn eine Generation, welche die Befreiung des Geisteslebens durchführt, wird es nicht geben. Es geht nur mit kleinen Schritten voran, nicht mit einem Schlag oder gar per ordre de mufti, wie man sich das noch nach dem Ende des 1. Weltkriegs vorstellte. Steiner hatte ja durch seinen Aufruf für die Dreigliederungsbewegung selbst wohl daran geglaubt, dass mit einer kleinen Anzahl der "Elite" sich so etwas machen ließe. Es wird erst eintreten, wenn die Menschen in großer Zahl so weit entwickelt sein werden, dass sie die Freiheit des Geisteslebens mit ihrer eigenen Kraft der Persönlichkeit verwirklichen, und zwar in jedem Bereich. Jeder Erfolg in dieser Richtung ist ein kleiner Schritt. Allein schon, dass die Waldorfschulen ihren eigenen Lehrplan entwickeln und fortschreiben, ist ein solcher Akt der Befreiung. Jede Regelung im Arbeitsleben, die der Versklavung der Arbeit entgegen wirkt ist ein solcher Schritt. Denn der Arbeitsplatz, gleich an welcher Stelle, ist ein Ort des Geisteslebens. Im Gesundheitswesen ist die Möglichkeit, als Heilpraktiker ohne staatliche Approbation zu arbeiten, freies Geistesleben, ebenso die zahlreichen alternativen Heilmethoden, die stattfinden, lange bevor sie eine "Anerkennung" durch die Behörden erhalten, meist vor der Bezahlung durch die Zwangskassen.
Das freie Geistesleben ist auf dem Vormarsch, aber gemach, gemach. Gut Ding will Weile haben!
Gerhardus Lang, Bad Boll
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