Frau Prof. Wolff, wie haben Sie die gesamte Veranstaltung empfunden?
Prof. Wolff: Mich hat der offene, unerschrockene und enttabuisierende Diskurs über schwierige Themen wie der Machtmissbrauch in Institutionen und der Umgang mit Krisensituationen sehr beeindruckt. Ich habe nicht wahrgenommen, dass etwas schöngeredet wurde, oder man von diesen Dingen nichts wissen wollte. Es gab ein Ringen um Lösungen im Sinne eines guten und achtsamen Umgangs miteinander. Die waldorfpädagogischen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen sind offenbar schon einige Schritte weiter und ich hoffe, dass deren Erfahrungen im positiven Sinne auch auf die Waldorfschulen ausstrahlen und sich dort ähnliche Strukturen etablieren werden.
Hatten Sie das erste Mal mit VertreterInnen von Waldorfschulen zu tun?
Prof. Wolff: Ja, im professionellen Sinne schon.
Und wie war das für Sie? Gab es da etwas Befremdliches?
Prof. Wolff: Naja, ich habe am Anfang gefragt, ob es denn auch Technik gibt für eine Powerpoint-Präsentation, da war ich mir nicht so sicher. Das wurde aber direkt mit Humor aufgefasst und man antwortete mir, ich müsse meinen Vortrag natürlich tanzen. Aber am Ende lief alles ganz professionell mit Medieneinsatz.
Welche Themen haben Ihnen bei den Arbeitsgruppen womöglich gefehlt?
Prof. Wolff: Mir hat die Gefährdungsanalyse gefehlt, also der Blick nach innen und auf das Spezifische der Waldorfpädagogik. Denn aus ihren Besonderheiten können eventuell ganz spezielle Risiken erwachsen, derer man sich bewusst werden muss. Darauf aufbauend sollten dann Regeln entwickelt werden, die das Risiko für die Jugendlichen minimieren, damit sie nicht schutzlos ausgeliefert sind. Dabei geht es immer um eine Stärkung der Rechte der Kinder und Jugendlichen. Auch fehlte der Bereich der Aufarbeitung in den Arbeitsgruppen. Da geht es darum, sich die Frage zu stellen, was man aus den Geschehnissen lernen kann für zukünftige verbesserte Prävention und Intervention. Auch wäre ein noch stärker partizipativ ausgerichteter Kinderschutz anzudenken, wo es um die Information und verstärkte Einbeziehung der Jugendlichen geht. Das ist zwar heikel, denn es kann Verunsicherung hervorrufen, aber es muss zumindest bedacht und in den Institutionen thematisiert werden.
Was ist Ihnen das Wichtigste am Thema Gewaltprävention?
Prof. Wolff: Mir ist wichtig, dass man in alle Richtungen partizipative Strukturen schafft, also mit Eltern, Kindern und anderen Institutionen an dem Thema arbeitet. Dass wir uns alle noch mehr öffnen und mit anderen zusammenarbeiten, denn wir können hier nur gemeinsam vorankommen. Es geht um Probleme, die immer mehrere Menschen betreffen, also kann auch nicht einer allein für deren Lösung zuständig sein. Man muss es auch als Schule nicht alleine stemmen, sondern sollte sich vielmehr Hilfe holen, sobald man nicht mehr weiterkommt.
Außerdem liegt mir am Herzen, dass die Kinder und Jugendlichen gut über diese Themen informiert werden und in ihren eigenen Wahrnehmungen und Rechten bestärkt werden. Die Erwachsenen sind zwar die Verantwortlichen und müssen in den Institutionen für Schutz und Sicherheit sorgen, doch gleichzeitig müssen Kinder wissen, dass sie auch selbst über Rechte verfügen und Dinge anmahnen können. Sie sind zu integrieren in die Prozesse, damit es durchschaubar und transparent wird und keine Mauscheleien stattfinden!
Was hat Ihnen besonders gut gefallen an unserem Thementag?
Prof. Wolff: Mir gefiel besonders das gute Miteinander in den Arbeitsgruppen. Obwohl Menschen aus ganz verschiedenen Arbeitsbereichen zusammen kamen (aus Schulen, Kindergärten und heilpädagogischen Einrichtungen), haben sie trotzdem eine homogene Gruppe gebildet, in der eine gemeinsame offene Diskussionen möglich war.
Darin spiegelt sich möglicherweise die Bildung aus einer Hand wider, die die Waldorfpädagogik vom Kleinkind bis zum Erwachsenen bietet (Anmerkung der Redaktion).
Was möchten Sie den Waldorfschulen noch abschließend mit auf den Weg geben?
Prof. Wolff: Ich möchte ihnen empfehlen, dass sie sich in den einzelnen Schulen oder übergreifend um einen »Code of conduct« kümmern und einen Diskurs darüber führen, was pädagogisch angemessene Verhaltensweisen sind. Eine gemeinsam abgestimmte Sichtweise für diese Pädagogik zu beschließen, halte ich für ganz zentral, zumal gerade reformpädagogische Ansätze in den letzten Jahren stark in die Kritik geraten sind und dies bisher versäumt hatten. Es wird also höchste Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, was man den professionellen Lehrkräften abverlangen kann und muss, es geht darum, »No Gos« zu formulieren! Gerade in dieser beziehungsorientierten Pädagogik ist das eindeutig zu formulieren, sonst wird es beliebig und willkürlich. Sobald jeder es für sich allein definieren kann, erhöhen sich die Risiken für Machtmissbrauch und Intransparenz.
Das Gespräch führte Celia Schönstedt. Der Thementag wurde vom Bund der Freien Waldorfschulen, der Vereinigung der Waldorfkindergärten und Anthropoi, dem Bundesverband anthroposophisches Sozialwesen gemeinsam veranstaltet. Prof. Dr. Mechthild Wolff ist Leiterin des Studiengangs Kinder- und Jugendhilfe an der Hochschule Landshut mit den Lehrgebieten Pädagogik, Kinder-, Jugend- und Familienhilfe sowie Kinderschutz in Institutionen.