Ruhe im Wirbel

Susanne Speckenbach

Dass die Lehrerpersönlichkeit und die Lehrer-Schüler-Beziehung mit zu den wichtigsten Faktoren für den Lernerfolg gehören, wissen wir nicht erst seit den Studien von John Hattie. Dazu gehört besonders auch die innere Ruhe, die eine Lehrkraft in sich finden kann. Diese Ruhe stellt sich in der heutigen schnelllebigen Gesellschaft nicht von alleine ein. Im Gegenteil, sie kann uns in der Hektik des Alltags sogar abhandenkommen. Darum muss man sich darum bemühen.

Wie sieht das heutige Leben oftmals aus? Beispielhaft ist eine Biografie, die ich durch einen Dokumentarfilm kennen gelernt habe: Electroboy (Regie: Marcel Gisler).

Ein Schweizer Junge, Florian Burkhardt, wächst absolut überbehütet bei seinen Eltern auf, mit denen er nach seiner Ausbildung am Lehrerseminar Anfang 20 abrupt bricht; er fängt eine Karriere in Hollywood an, es scheint mit Erfolg, bricht diese ab und wird ein gefragtes Model. Unstet wechselt er die Agenturen, und auch diese Tätigkeit verlässt er von einem Tag auf den anderen, geht eine zunächst glückliche Beziehung zu einem Bauernburschen ein, dann folgt die Trennung; er wird schließlich ein Internetpionier, später Partyveranstalter, alles sehr erfolgreich. Doch dann kann er nicht weiter machen, da sich eine ausgeprägte Angststörung einstellt, die ihm monatelang nicht erlaubt, das Zimmer zu verlassen, und schließlich zur Selbsteinweisung in die Psychiatrie führt. Nur mit täglicher Medikamenteneinnahme kann Florian Burkhardt sein Leben im Griff behalten. Im Film ist zu erleben, wie er spricht und wie er lacht, etwas nervös, vielleicht sogar unsicher, trotz all der beruflichen Erfolge. Und es ist sehr berührend zu sehen, wie sich im Laufe der über mehrere Jahre gehenden Regiearbeit eine neue erste Verständigung zwischen Florian und seinen Eltern anbahnt.
So zerrissen mit diesen abrupten Brüchen zwischen den einzelnen Lebensphasen ist vielleicht nicht jede heutige Biografie, aber wenn wir betrachten, wie häufig Atemlosigkeit, Burnout und psychische Erkrankungen in unserer Gesellschaft vorkommen, dann kann man doch erkennen, wie notwendig es ist, etwas dagegenzusetzen. Als Klassenlehrer sind wir ja den Stürmen des Lebens in gleicher Weise ausgesetzt wie andere Menschen, aber durch die enge Beziehung zu vielen Kindern und die professionelle Verantwortung für sie, noch mehr aufgerufen, damit bewusst umzugehen.

Wie kommen wir zur Ruhe? Einige Tipps

Ich kenne Situationen, in denen man als Lehrer von der Unruhe in der Klasse angesteckt wird und nicht zu dem kommt, was man vorbereitet hat. Das ist unbefriedigend. Ich habe mich gefragt, was mich ruhig macht. Dazu gibt es verschiedene Anregungen, zum Beispiel eine Meditation: Ich imaginiere hinter mir eine leuchtende Säule, in die ich eintrete. Eine weitere Sicherheit gibt mir, dass ich auf den Unterrichtsstoff gut vorbereitet bin. Ferner, dass ich mir die Kinder abends vor das innere Auge stelle und dadurch eine Verbindung zu ihnen schaffe. Kollegialer Austausch und Absprachen helfen auch. Auch die Ruhemeditation von Rudolf Steiner (GA 268) kann eine Hilfe sein:

Ich trage Ruhe in mir,
Ich trage in mir selbst
Die Kräfte, die mich stärken.
Ich will mich erfüllen
Mit dieser Kräfte Wärme,
Ich will mich durchdringen
Mit meines Willens Macht.
Und fühlen will ich
Wie Ruhe sich ergießt
Durch all mein Sein,
Wenn ich mich stärke,
Die Ruhe als Kraft
In mir zu finden
Durch meines Strebens Macht.

In diesem Spruch wird die »Ruhe« an den Willen angegliedert: Ich trage Ruhe in mir entspricht offenbar dem ich trage die Kräfte, die mich stärken, also Ruhe = stärkende Kräfte. Diese Kräfte sind warm, ich will mich mit meines Willens Macht mit der Wärme der Kräfte durchdringen. Die Ruhe als Kraft schließlich ist es, die ich durch meines Strebens Macht in mir finden kann. All dies ist im Willens- und Stoffwechselbereich des Menschen angesiedelt: Kraft, Stärke, Wärme, Streben. Sonst sind wir gewohnt, Willens­tätigkeit in Bewegungen zu sehen und verbinden Ruhe mit Nerventätigkeit: Der Kopf ruht auf den Schultern, lässt sich fahren wie in einer Kutsche. Deshalb sind klare Gedanken möglich. Es ist also offenbar eine andere Ruhe, die wir hier suchen und die sich durch die meditative Beschäftigung mit diesem Spruch einstellen kann. Vielleicht kann man sagen, dass das Denken die Ruhe als Voraussetzung braucht, während das Wollen Ruhe hervorbringt.

Eine weitere Hilfe zur seelischen Stärkung finden wir an anderer Stelle. Schon vor mehr als 100 Jahren beobachtete Rudolf Steiner die Hast des seelischen Lebens, die Erscheinung, dass Menschen nicht zu Entschlüssen kommen können und psychosomatische Krankheitsformen. Auch im öffentlichen Leben nahm er das wahr: »Überall ist so etwas wie diese Nervosität vorhanden.« In dem Vortrag »Nervosität und Ichheit« (GA 143) beschreibt er neun Übungen, die ich so verstehe und erlebe, dass sie gesundend auf den ganzen Menschen wirken. Diese Übungen lassen sich immer mal wieder im Alltag einbauen.

1. Gedanken mit Bildern verbinden: »Ich habe den Gegenstand an diesen Ort gelegt, ich merke mir das Bild der Umgebung nach Form, Farbe und so weiter, und ich versuche mir das einzuprägen.«

2. »Aufmerksamkeit [...] verwenden, auf das, was man tut, heißt immer, seinen innersten Wesenskern mit seinem Tun in innigen Zusammenhang zu bringen« (z.B. indem ich meine Schrift ändere).

3. Etwas rückwärts durchlaufen: eine Zahlenreihenfolge von hinten lernen. »Außerordentlich gut ist es nun, wenn man diese nicht nur lernen lässt oder selbst lernt in der Reihenfolge, die die ordentliche ist, sondern auch die Sache sich aneignet in der umgekehrten Reihenfolge, indem man alles sich vorführt von hinten nach vorne.«

4. Dinge vollbringen und zugleich anschauen: »Beim Schreiben lässt es sich verhältnismäßig ganz gut ausführen, das, was man tut, zu gleicher Zeit anzuschauen.«

5. Vorstellung gewinnen von der eigenen Bewegung, von der Wirkung des eigenen Tuns: »Das ist, wenn der Mensch versucht, sich zuzuschauen, wie er geht, wie er die Hand bewegt, seinen Kopf bewegt, bei der Art und Weise, wie er lacht und so weiter, kurz, wenn er versucht, sich von seinen Gebärden eine bildhafte Rechenschaft zu geben.«

6. Gewohntes anders tun (z.B. mit der linken statt mit der rechten Hand).

7. Verzicht: »Nun gibt es ein einfaches Mittel, den Willen­
zu stärken für das äußere Leben, und dieses Mittel ist, Wünsche, die vorhanden sind, zu unterdrücken.«

8. Das Für und Wider betrachten: »Für alles gibt es ein Für und ein Wider; und für alle Sachen ist es gut, wenn wir uns angewöhnen, sie so zu behandeln, dass wir nicht nur das eine, sondern auch das andere, nicht nur das Für oder das Wider, sondern das Für und das Wider berücksichtigen. Auch bei den Dingen, die wir tun, ist es gut, sich vorzuführen, warum wir sie unter gewissen Umständen besser unterließen, oder überhaupt, sich klarzumachen, dass es auch Gründe dagegen gibt.«

9. Sich Urteile versagen: »Je mehr man sich angewöhnen kann, unabhängig zu machen die Beurteilung namentlich unserer Mitmenschen von der Art und Weise, wie sie sich zu uns stellen, je mehr man das kann, desto besser ist es für die Stärkung unseres Ichs […]. […] Gut ist es zur Stärkung des Ichs, darüber nachzudenken, dass wir einen großen Teil, neun Zehntel der Urteile, die wir fällen, in allen Fällen unterlassen können. Wenn man nur ein Zehntel von den Urteilen, die man über die Welt fällt, in seiner Seele erlebt, so genügt das reichlich für das Leben« (S. 34 f.).

»Schaffe Dir Augenblicke innerer Ruhe und lerne in diesen Augenblicken das Wesentliche von dem Unwesentlichen unterscheiden« (GA 10). Das ist eine der Grundbedingungen, die Steiner für die Geistesschulung angibt. Genauso scheint sie mir für jeden heutigen Menschen zu gelten, der an sich arbeiten will. Und dazu sind die Klassenlehrer besonders aufgerufen und beschenkt, weil die Klasse ihnen täglich spiegelt, woran sie noch zu arbeiten haben. Und gerade weil die Beziehung durch die täg­liche Begegnung und gemeinsame Arbeit über viele Jahre so eng wird, tut man es gern – nicht nur für sich selbst,
sondern für die einem anvertrauten Kinder.

Zur Autorin: Dr. Susanne Speckenbach war Klassenlehrerin; zur Zeit verantwortlich für das Forschungsprojekt »Zukunft Waldorfpädagogik – Bildung in digitalen Zeiten« und Dozentin an der Freien Hochschule Stuttgart.

(Nach einem Vortrag, den die Autorin bei der Sommerakademie des Bundes der Freien Waldorfschulen 2016 gehalten hat.)