Anerkennung – Grundstein einer menschenwürdigen Pädagogik

Albert Schmelzer

Dabei erweist sich in einem ersten systematischen Zugang, in dem Philosophen wie Johann Gottlieb Fichte, Friedrich W. Hegel, Rudolf Steiner, Charles Taylor und Axel Honneth untersucht werden, die Anerkennung als Motor der Entwicklung und Grundlage des Bestehens von Freiheit. Die Haltungen, durch welche das geschieht, sind das dem Anderen entgegengebrachte Vertrauen und das Bemühen, ihn zu verstehen. Auf dieser Grundlage wird in einem zweiten Schritt der Blick auf das Feld der Erziehung und Bildung gelenkt. Eine personale Pädagogik ist sich der relationalen Verfasstheit aller pädagogischen Prozesse bewusst: Erziehung ist ganz wesentlich Beziehung. Dabei kommt der Anerkennung aus Sicht von Bildungstheorie und Erziehungswissenschaft – der Autor führt u.a. Paul Mecheril, Werner Helsper, John Hattie und Annedore Prengel an – eine zentrale Bedeutung zu. Lehrer sollten sich um eine positive, interessierte, freundliche und offene Haltung bemühen.

»Schüler lernen leichter, wenn ihnen seitens des Lehrers vermittelt wird, dass sie und ihr Lernen ihm wichtig sind, dass er ihre Persönlichkeit versteht und sie sich daher bei ihm sicher fühlen und ihm vertrauen können«, so Weiss. Vor diesem Hintergrund unternimmt der Autor in einem dritten Schritt den breit angelegten Versuch, die Waldorfpädagogik aus anerkennungstheoretischer Perspektive durchzubuchstabieren. Dieser Versuch ist ihm in ausgezeichneter Weise gelungen: Er stellt einleuchtend dar, wie die Formen der Anerkennung sich altersspezifisch differenziert entfalten, angefangen vom liebevollen Blickkontakt zwischen Säugling und Eltern über die selbstverständliche Akzeptanz personaler Autorität fähiger Erwachsener bis hin zum verständnisvollen, von Einsicht getragenen Eingehen auf das bessere Argument; er spricht über die Klassengemeinschaft als sozialen Raum, in dem das Interesse am Anderen ausgebildet werden kann; er entwickelt das Konzept des charakterisierenden, wertschätzenden Zeugnisses als Anerkennung individueller Arbeitsprozesse und weist auf drei pädagogische Grundkräfte hin: die Ehrfurcht vor der Individualität der Heranwachsenden, die schützende Gebärde, die einen offenen Entwicklungsraum ermöglicht, den Enthusiasmus für die Entfaltung der Potenziale der Schüler.

Dem Buch, das in klarer, differenzierter Sprache geschrieben ist und vielfältige Bezüge zum bildungsphilosophischen und erziehungswissenschaftlichen Diskurs sowie zum pädagogischen Werk Rudolf Steiners aufweist, ist eine weite Verbreitung zu wünschen.

Leonhard Weiss: Individualität und Anerkennung. Bildungsphilosophische Perspektiven der Waldorfpädagogik. Eine Grundlegung. brosch, 240 S., EUR 34,90, LIT Verlag, Wien 2020