Anthroposophische Pädagogik

Johannes Kiersch

Auch nachdem die wenigen schriftlichen Skizzen Steiners zu seiner Pädagogik und die Nachschriften seiner programmatischen Vorträge zu diesem Thema im Rahmen der Dornacher Gesamtausgabe vollständig veröffentlicht waren, bis hin zu den Nachlese-Bänden von 1979 und 1998 (GA 297, 297a, 304, 304a), die noch einmal unerwartet Neues brachten, richtete sich das Interesse der Waldorflehrerschaft und ihrer Sympathisanten im Wesentlichen auf die menschenkundlichen Inhalte der anthroposophischen Pädagogik und die Methoden ihrer Anwendung in der Praxis, nicht auf die Person des Gründers und die historischen Umstände seines Wirkens.

Das hat sich inzwischen geändert. Der Historiker Helmut Zander hat – auch wenn er dabei durch sein einseitig historistisches Vorgehen, seine verfehlte Einengung des Blicks auf Steiners kurzes Gastspiel bei den Theosophen und durch vielerlei Unterstellungen und Vermutungen zu sehr anfechtbaren Ergebnissen gekommen ist, die der Waldorfpädagogik schaden –, in mancher Einzelheit das Umfeld Steiners neu beleuchtet, menschliche Beziehungen und ideelle Affinitäten sichtbar gemacht, die den ersten Schülern des Begründers der Waldorfpädagogik unbekannt waren oder die sie nicht für wichtig hielten.

Sein voluminöses Werk stellt bis heute für anthroposophisch orientierte Forscher eine Provokation dar, die Antworten fordert. Als Initiativen in dieser Richtung mag man Lorenzo Ravaglis Skizzen zur Geschichte der anthroposophischen Bewegung verstehen, mit denen er die freimütigen Anläufe seines Jahrbuches für anthroposophische Kritik fortsetzt, den von Rahel Uhlenhoff herausgegebenen Sammelband »Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart« und Peter Selgs dreibändige Biografie von 2012, die hinsichtlich der Einbettung des Lebenswerks Steiners in die Zeitverhältnisse und an Detailreichtum das klassische Werk Lindenbergs noch einmal deutlich übertrifft.

Soeben ist außerdem der erste Band einer noch umfassenderen und höchst originellen Biografie aus der Feder des bekannten norwegischen Schriftstellers Kaj Skagen erschienen, die, sobald sie ins Deutsche übersetzt sein wird, als attraktives Amalgam von sympathisierender Einfühlung, kritischer Distanz und historischer Forschungskompetenz bei intelligenten Lesern mindesten ebenso viel Aufmerksamkeit auslösen dürfte wie das Werk Helmut Zanders. Als hilfreich werden sich ohne Zweifel auch die Kommentare und Materialien der neuen Kritischen Ausgabe grundlegender Werke Steiners von Christian Clement erweisen.

Peter Selg nun fördert diesen ganzen Forschungszusammenhang mit einer exemplarischen Studie. In einem lesenswerten kleinen Buch zeigt er, was sich ergibt, wenn Waldorfpädagogik, wie Rudolf Steiner sie einführend darstellt, im Zusammenhang mit dem historischen Kontext der zugrundeliegenden Nachschriften gesehen werden kann. Er hat dafür eine der pädagogischen Vortragsreihen aus dem letzten Arbeitsjahr Rudolf Steiners gewählt, den Kurs vom 13. bis 17. April 1924 in Bern über »Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen«. Neben den inhaltlichen Motiven dieser Reihe, die Selg in einem eigenen Kapitel beleuchtet, die ähnlich auch in anderen Einführungskursen Steiners erscheinen und deshalb hier nicht referiert werden sollen, wird der engagierte Menschenkreis beschrieben, der die Veranstaltung an prominentem Ort, im Großratssaal des Rathauses der Stadt, zustande gebracht hat, der langjährige Einsatz dieses Kreises für die vorangegangenen Kurse Steiners in der Schweiz und für eine eventuelle Schulgründung in Basel, und vor allem die energischen Initiativen der Sekundarlehrerin Emma Ramser, die das Ganze zusammenhielt. Was Selg aus Berichten und Briefen von ihr zusammenträgt, gibt ein anrührendes und fesselndes Bild dieser außergewöhnlichen Frau.

Großen Wert legt Selg darauf, zu zeigen, wie eine interne Veranstaltung der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz und eine Lehrstunde der kurz zuvor gegründeten Freien Hochschule für Geisteswissenschaft während des öffentlichen Kurses im gleichen Haus stattfanden und dass dies kein Zufall war, sondern beides mit den Intentionen des pädagogischen Kurses intim zusammenhing. Steiner schenkt den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft einen Vortrag über Schicksals- (Karma-)fragen, der im Einklang mit den im Jahr 1924 in Dornach und an anderen Orten gehaltenen Vorträgen über »Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge« (GA 235-240) gehalten worden ist.

Und in der »Klassenstunde« appelliert er vor den Mitgliedern der Hochschule, die sich dazu verpflichtet haben, ihr Leben als »Repräsentanten« der anthroposophischen Sache vor der Welt zu führen, an den gemeinsamen Willens-Impuls, der – im Sinne der »Weihnachtstagung« von 1923/24 – einen neuen »esoterischen Zug« in die anthroposophische Bewegung bringen soll. Selg macht auf den engen Zusammenhang aufmerksam, der zwischen diesem Appell und gewissen Berichten Steiners über die Arbeit der Hochschule im Dornacher Nachrichtenblatt für die Mitglieder besteht, besonders mit dem dort unmittelbar nach dem Berner Kurs erschienenen Aufsatz vom 20. April 1924. Er unterstreicht damit die dringende Aufgabe unserer Gegenwart, die Aktualität der anthroposophischen Esoterik für die Waldorfpädagogik tiefer zu verstehen und eine entsprechende Neubesinnung auf den spirituellen Kern der Sache in Gang zu setzen.

In seinem Karma-Vortrag widmet sich Steiner drei historischen Gestalten mit besonderem Bezug auf die Situation in Bern: dem Schweizer Dichter Conrad Ferdinand Meyer und zwei Klassikern der Pädagogik: Johann Amos Comenius und Johann Heinrich Pestalozzi. Selg malt die dabei entworfenen Bilder mit fesselnden Einzelheiten weiter aus. Zusammenfassend schreibt er: »Indem Rudolf Steiner an Francis Bacon (und partiell auch an Amos Comenius) den geistesgeschichtlichen Hintergrund, die Ausbreitung und Wesensgestalt des naturwissenschaftlichen Materialismus näher aufhellte, anhand von Conrad Ferdinand Meyer eine exemplarische Studie zu einer spezifisch geistig-seelisch-leiblichen Konstitution und ihrer karmischen Werdensdynamik anstellte und schließlich erstmals auf Pestalozzi einging, der eine wegweisende, international ausstrahlende pädagogische, heilpädagogische und soziale Arbeit für Kinder und Jugendliche in der Schweiz geleistet hatte, vertiefte und erweiterte er ohne Zweifel seine pädagogischen Ausführungen zu einer neuen, mit ›Menschenweisheit‹ arbeitenden, anthropologisch-anthroposophischen Erziehungskunst« (S. 125f.).

Breit kommentiert Selg die besondere Lage, in der sich Befürworter eines staatsfreien Schulwesens, damals ebenso wie heute, speziell in der Schweiz befinden. Staatliche Schulen werden dort durchaus als frei erlebt. Steiner sieht das sofort und plädiert dafür, dem Waldorf-Verein einen in diesem empfindlichen Punkt unverfänglichen Namen zu geben. »Wir wollen nicht die ganze Schweiz mit ›freien‹ Schulen überschwemmen. Das nehmen uns nicht nur die Katholiken krumm, sondern jeder demokratische Schweizer nimmt es krumm, weil er sich das nicht sagen lassen will, dass Staatsschulen unfrei seien« (S. 29). Ausdrücklich betont er, dass Waldorfpädagogik auch an staatlichen Schulen praktiziert werden kann. Bald entsteht ja dann auch die »Freie pädagogische Vereinigung im Kanton Bern«, in der sich für die Waldorfpädagogik engagierte Lehrer an staatlichen Schulen zusammengeschlossen haben. Zugleich aber unterstreicht Steiner, dass es daneben auch »Musterschulen« geben müsse, in denen die von ihm inaugurierte Pädagogik ganz auf sich selbst gestellt erprobt und weiter entwickelt werden kann. Die seit einigen Jahren in Gang befindlichen Versuche mit Waldorfpädagogik an staatlichen Schulen in Deutschland finden in Selgs Kommentaren zu diesem Problem mehr als sonstwo hilfreiche Hinweise.

Es wäre sehr zu wünschen, dass Peter Selgs fruchtbarer Ansatz, Vorträge Rudolf Steiners in ihrem historischen und speziell zwischenmenschlichen Kontext zu studieren, auch auf andere pädagogische Vorträge angewandt wird. Für die in England gehaltenen Kurse hat Crispian Villeneuve dafür Vorbildliches geleistet. In diesem Sinn hätte man sich in Selgs Darstellung einen Blick auf die dem Berner Kurs unmittelbar vorangehenden Vorträge über »Die Methodik des Lehrens und die Lebensbedingungen des Erziehens« gewünscht, mit denen sich Rudolf Steiner im Stuttgarter Siegle-Haus vor über tausend begeisterten Zuhörern von seinem öffentlichen pädagogischen Wirken in Deutschland verabschiedet hat. Er schließt dort mit dem gleichen feierlichen Mantra wie in Bern (»Dem Stoff sich verschreiben …«) und bespricht noch deutlicher als hier seine Idee der drei »Lehrerkünste«, wie heute gern gesagt wird, als Kernbereich einer künftigen Lehrerbildung. Was er in Bern darüber vorbringt, ist Teil einer ganzen Kette von Suchbewegungen, die vom Herbst 1923 an zu immer deutlicheren Leitvorstellungen führt, mit denen Steiner die Kunst des Erziehens konkretisiert hat (siehe Husemann).

Literatur:

Kaj Skagen: Morgen ved midnatt. Den ungen Rudolf Steiners liv og samtid, verk og horizont. 1861-1902. Oslo: Vidarforlaget, 2015.

Crispian Villeneuve: Rudolf Steiner in Britain. A Documentation of his Ten Visits. 2 Bde. Forest Row: Temple Lodge, 2004.

Armin Husemann (Hrsg.): Menschenwissenschaft durch Kunst. Die plastisch-musikalisch-sprachliche Menschenkunde. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben, 2007.

Peter Selg: Anthroposophische Pädagogik. Rudolf Steiners Kurs im Berner Rathaus, kart., 208 S., EUR 26,–, Verlag des Ita Wegman Instituts, Arlesheim 2015