Bildschirmunruhen

Maja Rehbein

Den »Zappelphilipp« gab es wohl schon immer. Doch seit etwa 30 Jahren, zeitgleich mit dem Auftreten des Fernsehers und des Computers, grassiert eine neue »Krankheit«: ADHS. Jedes sechste Kind ist überaktiv und unaufmerksam! Eine Zeitkrankheit? Und: Kann es noch schlimmer kommen? Christoph Türcke, Philosophieprofessor in Leipzig, betrachtet in seinem Buch die »Aufmerksamkeitsdefizitkultur« und skizziert mit dem neuen Schulfach »Ritualkunde« die mögliche Rettung. Rituale seien – seit der Urzeit – von Menschen gemacht. Mit Freuds Gedanken zum Opfer stellt er die Religion als etwas dar, was den Menschen durch psychologische Kunstgriffe entängstigt.

Die Hyperaktivität werde davon ausgelöst, dass das junge Kind nicht nur mit modernen Medien traktiert wird, sondern die Mutter ihre Aufmerksamkeit zwischen ihm und dem Fernseher teilt. Dies sei jedesmal ein kleiner seelischer Schock für das Kind, und die Summe dieser Schocks führe zu Unangepasstheit in der »Ersten Realität«. Dagegen könne das Kind oft in der Ersatzrealität des Computers ruhig und zielgerichtet handeln.

Türcke spricht sich dagegen aus, Hyperaktivität mit Ritalin zu behandeln. Das behindere die Entwicklung des kindlichen Gehirns. Den Kindern fehlten vielmehr feste Rituale, im Sinne einer »profanen Andacht«, die Wiederholungen kultiviert. Kinder, die einer Religionsgemeinschaft angehören, seien weniger gefährdet.

Die Therapie sei eine gesellschaftliche Aufgabe, denn: »Nur wo schon eine Aufmerksamkeitsdefizitkultur besteht, gibt es ADHS«, schreibt Türcke. Die Kinder fähig zu machen, »sich derart in eine Sache zu versenken, dass sie sich selbst dabei vergessen, aber gerade so eine Ahnung davon bekommen, was erfüllte Zeit wäre: das ist vielleicht die vordringlichste Bildungsaufgabe unserer Epoche«, findet Türcke. Sein Buch belegt wissenschaftlich, was vernünftige Mütter und Großmütter bei der Kindererziehung schon immer gesagt haben. Es ist eine Streitschrift für die Kinder, denn es kann noch schlimmer kommen! Ritualkunde in allen Schulen? Warum nicht? Trotzdem hofft man, dass es immer mehr Waldorfschulen geben möge, die dieses Fach nicht extra nötig haben.

Christoph Türcke: Hyperaktiv!: Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur, Paperback, 122 S., EUR 9,95, Verlag C. H. Beck, München 2012