Biographie eines Whistleblowers

Tomás Zdražil

Erst durch seine Enthüllungen ist das Ausmaß der digitalen Kontrolle durch US-Einrichtungen sowie einige Internet-Unternehmen ins Bewusstsein der Weltbevölkerung gedrungen. Snowden war als Spion und CIA-Mitarbeiter gewohnt, seine Identität anonym und verborgen zu halten. Nun legt der erst Sechsunddreißigjährige sogar eine Autobiographie vor und zeigt sich als leidenschaftlicher Menschenrechts- und Freiheitskämpfer. Die Biographie Snowdens ist einmaliges Lebenszeugnis eines modernen jungen Menschen, der zu einer intellektuellen und moralischen Autorität der Gegenwart geworden ist.

Snowden gehört zu der ersten Generation, für die die reale Lebenswelt sekundär wurde und das Eigentliche sich im Virtuellen abspielte. Mit sieben Jahren spielte er elektronische Spiele auf einer einfachen Nintendo-Spielkonsole. Mit neun Jahren schaffte sein Vater einen ersten PC an: »Der Compaq wurde mein ständiger Begleiter ..., meine erste Liebe.« Seine Lebenserfahrung machte er dann als Jugendlicher zum größten Teil im Internet: »Seit ich zwölf Jahre alt war, bemühte ich mich, in jedem wachen Augenblick meines Lebens online zu sein … Das Internet war mein Heiligtum. Das Internet wird von ihm als der eigentliche Entwicklungs-, Bildungs- und Freiheitsraum erlebt. Bitter ist für ihn die Erkenntnis, wie anders und missbräuchlich das Internet mit dem neuen Jahrtausend geworden ist. Schließlich führte seine Ausbildung bloß zu einigen Informatik-Kursen, das Informatik-Studium brach er ab.

In seiner Kindheit waren es aber offensichtlich die Bilder der Mythen, die sich ihm tief in die Seele eingeprägt haben: die Äsop-Fabeln, die Artus-Sage und insbesondere die griechische Mythologie mit ihren Helden und Göttern. Später beschäftigte er sich mit dem bekannten amerikanischen Mythenforscher J. Campbell wie auch dem Tiefenpsychologen C. G. Jung.

Mit Schmerz und Scham denkt er an seine unbesonnene reflexartige Bejahung des durch die USA 2001 erklärten Kriegs gegen den Terror zurück und rechnet hart mit der amerikanischen Politik ab. Snowden stellt erschüttert fest, wie das Ereignis 9/11 zum Sprungbrett einer Angst-Hysterie geworden ist, die den Verstand der Menschen umnebelte, die Grundfesten einer demokratischen politischen Ordnung dekonstruierte und zur schleichenden Installation eines totalitären Überwachungssystems führte. Die Technik zeigte sich dabei als eine starke Waffe, »jedoch weniger gegen den Terror als vielmehr gegen die Freiheit selbst«, wie Snowden schreibt. In Wirklichkeit seien Machtentfaltung, Kontrolle und Manipulation die Motive für die sogenannten Sicherheitsmaßnahmen. »Dies ist das Ergebnis aus zwei Jahrzehnten unkontrollierter Innovation, das Endprodukt einer Politiker- und Unternehmensschicht, die davon träumt, Dich zu beherrschen. Egal wo, egal wann und egal was Du tust: Dein Leben ist zu einem offenen Buch geworden.« Snowdens Leitstern, die Wertschätzung der menschlichen Freiheit, zeigt sich in seinen Schilderungen der Menschenrechte und Freiheiten, ganz besonders der Lektüre der amerikanischen Verfassung. Immer wieder zieht er Parallelen zwischen der Gegenwart und geschichtlichen Situationen aus verschiedenen Epochen, in denen sich Menschen unter persönlichen Opfern für das Wohl des Ganzen eingesetzt haben.

Beeindruckend ist die Reife und Bescheidenheit, mit der dieser doch noch so junge Mensch sowohl sein Leben wie den Kontext der politischen und gesellschaftlichen Umstände schildert. Kein Wunder: Er ist jemand, der mit seinem Leben vorläufig abgeschlossen hat. Mit 29 Jahren – vor sieben Jahren – beschloss er nach großem inneren Ringen und ohne es mit jemandem beraten zu können, das Verbrechen der Massenüberwachung bekannt zu machen und dafür womöglich mit seinem Leben zu bezahlen. Er empfindet sich wie ein Mensch, der sich auf seinen Tod vorbereitet, »sein eigenes Grab sucht«. Sein letzter Arbeitsort, die NSA-Einrichtung »Kunia Regional Security Operations Center« auf der Hawaii-Insel Oahu gibt dafür die Kulisse ab. »Die Anlage war aus Stahlbeton gebaut; der Tunnel, dem sie ihren Namen verdankte, war eine kilometerlange Röhre im Abhang eines Berges, die in drei Höhlenstockwerke mit Serverräumen und Büros führte.« Nach seinem »Verrat« durchlebte Snowden ein »Stirb und Werde«, verbrachte einen ganzen Monat in Hongkong und nach zwanzig Stunden Zwischenlandung weitere fünf Wochen auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo. Russland gewährte ihm Asyl. Die US-Behörden stellten einen Auslieferungsantrag. Frühjahr 2020 Snowdens endete die Aufenthaltsgenehmigung.

Am 23. März gab er ein Interview zu der damals aktuellen Pandemie-Situation und schilderte einen Zusammenhang zwischen 9/11 und Corona, indem vor dem Hintergrund der Panik politische Entscheidungen und Maßnahmen getroffen werden, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. »Momentan wird eine Architektur der Überwachung errichtet.« Die Biographie von Snowden, seine Erfahrungen und Erkenntnisse bieten Diskussionsstoff ab der 8. Klasse.

Edward Snowden: Permanent Record: Meine Geschichte, Festeinband, 428 S., EUR 22,–, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019