Das Big Other lässt grüßen

Dirk Wegner

So wichtig diese Probleme sind, repräsentieren sie doch nur die Oberfläche einer geschichtlichen Strömung, die gerade auf beispiellose Weise die menschliche Lebenswelt verändert und radikal bedroht. Das Buch von Zuboff beruht auf Recherchen seit dem Jahr 2006 und zeigt die Entwicklung der neuen, auf dem Internet beruhenden Wirtschaftsform auf, welche die Autorin als »Überwachungskapitalismus« bezeichnet. Die Neuheit der aktuellen Entwicklung erfordert neue Begriffe, wie auch den genannten, die stets bei ihrer Einführung erläutert werden. Überwachungskapitalismus ist laut Zuboff: »1. Neue Marktform, die menschliche Erfahrung als kostenlosen Rohstoff für ihre versteckten kommerziellen Operationen der Extraktion, Vorhersage und des Verkaufs reklamiert; … 4. Fundament und Rahmen einer Überwachungsökonomie; … 6. der Ursprung einer neuen instrumentären Macht, die Anspruch auf die Herrschaft über die Gesellschaft erhebt; 7. zielt auf eine neue kollektive Ordnung auf der Basis totaler Gewissheit; 8. eine Enteignung kritischer Menschenrechte….«  Was hier schlagwortartig aneinandergereiht erscheint, wird auf den folgenden über 700 Seiten detailliert, logisch zwingend und sicher belegt ausgebreitet. Allein der Anmerkungsapparat einschließlich der Quellenangaben umfasst über 100 Seiten.

Zuboff zeichnet zunächst die Entwicklung des Überwachungskapitalismus nach. Während am Anfang das Internet nur ein offener Raum war, den Idealisten mit ihren Ideen und Programmen bevölkerten und in dem Suchmaschinen wie Google Orientierung boten, entwickelte sich daraus bald eine Werbemaschine: Die dem Nutzer unbewusste Enteignung seiner Daten ermöglichte personalisierte Werbung; diejenige Einnahmequelle, welche die aktuellen Monopole Google, Facebook und Microsoft hervorgebracht hat. Begünstigende Bedingungen waren und sind, dass das Internet weitgehend unreguliert ist und nationalen Gesetzen ohne Zensur nicht unterworfen werden kann. So konnten Gestaltungsräume besetzt und geprägt werden, während politisch-gesetzgeberische Prozesse stets hinterherhinkten, weil zunächst die neu geschaffene Realität (gegen jegliche Verschleierung) erkannt werden musste, bis dann in den üblichen langwierigen Abstimmungsprozessen Gegenmaßnahmen ergriffen werden konnten, wie z.B. die europäische Datenschutz-Grundverordnung. Inzwischen ist die ungefragte Enteignung von allen möglichen personalisierbaren Daten zur kommerziellen Nutzung durch Google, Facebook und Amazon ein Standard, an den viele sich gewöhnt haben, vor dem andere sich noch schützen wollen, dessen Existenz aber als gegeben angesehen wird. Gewöhnung und dieser folgend Hinnahme des Gegebenen durch Nutzer als Datenlieferanten sind Teil des überwachungskapitalistischen Kalküls.

Dabei hat sich schon längst die nächste Stufe des Überwachungskapitalismus etabliert. Auf der einen Seite werden beispielsweise massenhaft Metadaten erhoben. Durch Analyse der Form von E-Mails, Anzahl, Wortwahl, Satzbau, Bewegungsverhalten, Ernährungsgewohnheiten u.v.a.m. lassen sich Korrelationen zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und erwartbarem Verhalten herstellen, die zu Werbezwecken genutzt werden. Aber wie viel effizienter ist es, das Verhalten von Menschen nicht nur vorherzusagen, sondern auch zu steuern? (Das mag im Einzelfall misslingen, aber im Kapitalismus macht es die Masse.) Ein Groß- und Massenversuch in dieser Hinsicht war Pokémon Go (2016) in Form eines Spiels, das als »augmented reality« (erweiterte Wirklichkeit) vermarktet wurde. In Wirklichkeit war nicht die echte durch die virtuelle »Realität« erweitert, sondern die Realität echter Menschen wurde durch die Lockungen eines virtuellen Spiels ferngesteuert (u.a. auch in Starbucks- oder McDonalds-Filialen hinein) und damit verengt. Dieser Versuch ist gelungen, denn zum einen wurden Hunderte Millionen Menschen weltweit in Bewegung gesetzt, zum anderen erzeugten diese auf ihren Wegen weitere Daten. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass im überwachungskapitalistischen Milieu der Handel mit Datensätzen zwischen Firmen ein Hauptgeschäft ist. Wenn die Öffentlichkeit an einer Stelle etwas genauer auf die Praxis einer Firma schaut, ist es ein Leichtes, um deren Image zu pflegen, eine andere Firma zu gründen und dieser die nötigen Informationen zu verkaufen. Zuboff spricht in diesem Zusammenhang von einem gesellschaftlichen »Unvertrag«. Während ein Vertrag voraussetzt, dass beide Parteien ein gemeinsames Bewusstsein über dessen Inhalt haben und durch ihre Unterschrift besiegeln, beruht die überwachungskapitalistische Geschäftsidee auf einem Unvertrag: Ich lasse Daten abgreifen (möglichst ohne mein Wissen und schon gar nicht Bewusstsein), andere generieren daraus Profit und versuchen darüber hinaus, mich in ihrem Sinne zu lenken, zunächst, um weiteren Profit zu generieren. Zu der Praxis des Unvertrags gehören schwer verständlich formulierte und unübersichtliche Nutzungsbedingungen, die man zu bestätigen hat, um wesentliche Funktionen einer App zu nutzen; zu der Praxis gehört auch, die Abschaltung des regelmäßigen Absaugens von Daten zu erschweren, zu verhindern oder sogar unwirksam zu machen.

Im dritten Teil des Buches geht es um die heraufziehende Welt und die in ihr lebenden Menschen, die durch den Überwachungskapitalismus geformt werden, wenn nicht rechtzeitig Widerstand geleistet wird. Die Überwachung wird aktuell auf möglichst alle Lebensbereiche ausgedehnt: Etliche Sensoren in Smartphones, »Time Line« bei Twitter, »Smart Home«, Fitness-Tracking, »Assistenten« wie Alexa, Cortana, Siri, Internet der Dinge, u.a. Autos mit einer Vielzahl von Sensoren. Im Hintergrund laufen »lernfähige« Programme, die in Echtzeit den Erfolg von Maßnahmen der Verhaltenssteuerung messen können, nur noch im Dienst der Verhaltenssteuerung zur Gewinnsteigerung oder der politischen Einflussnahme. Facebook musste erst lernen, dass die Routinen, welche primär dazu dienen, Nutzer auszubeuten, auch unbeabsichtigte Nebeneffekte haben. Der Einsatz von Hochleistungscomputern mit »intelligenten« Programmen führt dazu, dass die daraus resultierenden Bewertungen nicht transparent sind – auch nicht denjenigen, die diese Programme erzeugt haben. (Es gibt genügend Belege, dass aus solchen Programmen errechnete »Scores« das reale Leben realer Menschen entscheidend beeinflussen, indem reale Versicherungen, Kreditgeber oder in den USA selbst Justizorgane sich auf sie beziehen und danach entscheiden.) Mindestens irritierend ist die Tatsache, dass maßgebliche Menschen aus der Führungsriege der großen Internetfirmen erwarten, dass mit der »Computerintelligenz« verbundene Menschen endlich in der Lage sind, ein friedliches und gesellschaftlich harmonisches Leben zu führen – besser formuliert: führen zu lassen. Die Unverletzlichkeit der Privatsphäre (Zuboff spricht von dem Recht eines jeden Menschen auf eine »Freistatt«), die Freiheit des Willens, eine demokratische Kultur, die auf der Wahrnehmung unterschiedlicher und gemeinsamer Interessen sowie deren Ausgleich, aber vor allem auf gegenseitigem Vertrauen beruht, gehören dann der Vergangenheit an. Es geht Zuboffs Meinung nach nicht mehr darum, sich mit den entstandenen Verhältnissen zu arrangieren (mehr Datenschutz?), sondern den Unvertrag zu kündigen. Die Nützlichkeit etlicher Dienste, die z.B. Google anbietet, ist unbestritten; es gibt aber auch Angebote, denen anzusehen ist, dass sie wegen des »Datenminings« geschaffen wurden. Internetbasierte Spiele, auch »soziale« Dienste wie Facebook sind so gestaltet, dass sie die Nutzer zeitlich möglichst lange binden. Dafür werden Ergebnisse der Suchtforschung verwendet − aber gegen die ureigenen Interessen der Menschen. Besonders perfide ist, dass entwicklungsbedingte Bedürfnisse in der Adoleszenzphase rücksichtslos ausgebeutet werden. Zu diesen gehört, im Rahmen der Selbstfindung und Selbstbewusstseinsbildung, auch Anerkennung durch andere. Facebook hat dafür den »Like-Button« erfunden. In beliebten Computerspielen sind es »Levels«, die der Spieler sich erarbeiten kann. Dem entsprechend ist die Internetabhängigkeit in dieser Altersphase besonders groß. Folge ist das Gegenteil dessen, was Jugendliche suchen. Es gibt keine direkte, nicht kanalisierte Begegnung mit anderen; die für die Entwicklung des Selbstbewusstseins erforderliche Begegnung mit sich selbst findet weniger statt, sondern wird ersetzt durch die Spiegelung der Wirkung auf andere. Eine stabile Persönlichkeit entsteht so eher nicht.

Gegenüber dem Bild, das Zuboff von den Aktivitäten der westlichen Internet-Giganten zeichnet – sie spricht in Anlehnung an Orwells »Big Brother« vom »Big Other« – muten diejenigen der chinesischen Regierung geradezu freundlich an. Bereits jetzt werden in Modell- und Versuchsregionen Menschen auch in der Öffentlichkeit (Gesichtserkennung) überwacht und ihre geschäftlichen und anderen Aktivitäten im Internet ebenso – möglichst vollständig. Diese Aktivitäten werden bewertet; der so gebildete soziale »Score« berechtigt zum einen, diverse Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, wie Bahnfahrten oder Flüge (oder eben nicht), er soll aber vor allem »vertrauensbildend« innerhalb gesellschaftlicher und geschäftlicher Beziehungen (oder eben nicht) wirken. So soll das Verhalten einzelner Menschen moralisch verbessert werden zum Wohle der Gesellschaft (und nicht kommerziell ausgenutzt zum finanziellen Nutzen weniger); der soziale Score des Individuums ist weitgehend offen (und nicht geheim); die Regeln, durch die der Score verändert wird, sind bekannt (und nicht mutwillig verschleiert). In dieser Weise etabliert sich eine Gesellschaftsform, die – auf eine andere Weise als im Westen – das Menschenwesen mit dem Maschinenwesen verschmilzt.

Das Buch ist nicht leicht zu lesen. Zuboff präferiert lange, teils verschachtelte Sätze, die immer wieder zu Turbulenzen im Lesefluss führen. Sie neigt zu Aufzählungen, die einerseits das Gemeinte verdeutlichen, aber in Wiederholungen, von denen es nicht wenige gibt, zum Überfliegen des Textes führen. Gut gelungen ist die Gesamtstruktur: Das Thema mit seiner Vielzahl an Perspektiven und Verflechtungen, dazu die zeitliche Entwicklung sind sinnvoll gegliedert. Die gelegentlichen intermediären Zusammenfassungen sind hilfreich, den Gesamtgedankenfluss zu erfassen. Erfrischend sind kraftvolle, eindeutige, manchmal zuspitzende Formulierungen, die wie eine Leitidee immer wieder verwendet werden. Eine von ihnen ist: Wer weiß? Wer entscheidet? Wer entscheidet, wer entscheidet? Sie tritt immer wieder auf, zulaufend auf das Statement, dass die gegenwärtige Entwicklung der großen Internetfirmen auf eine neue Art des Totalitarismus zusteuert. Diese greifen über ihre Produkte und Dienstleistungen parasitär Daten ab; sie verfügen über die Freiheit und das Wissen, den Menschenschwarm, repräsentiert und reduziert auf egalitäre, mannigfaltig kombinierbare Datensätze zu manipulieren und zu formen. Die Triebkraft dieses Totalitarismus ist (noch) Profit, dann aber Machbarkeits- und Machtwahn. Maßstab für computerintelligente Entscheidungen sind nicht auf das Individuum bezogene Qualität und Moral, sondern amoralische statistische Quantität. Man erinnere sich daran, dass milliardenfach Menschen mit einander, mit ausgewählten Informationen und nicht weniger Desinformationen verbunden werden, ohne dass die Verantwortlichen sich über Lippenbekenntnisse hinaus zu dieser Verantwortung stellen, geschweige ihre Algorithmen und zugrunde liegenden Regeln offen legen. Genau diese öffentlich zu diskutieren und politisch festzulegen wäre notwendig wegen der politisch-gesellschaftlichen Wirksamkeit, die u.a. mit ursächlich für den aktuellen weltweiten Rückzug der Demokratie als Staat- und Gesellschaftsform ist. In diesem Totalitarismus ist ein echter Mensch, der Realität wahrnimmt, der selbst und autonom entscheidet nach eigenen Ideen, der den politischen Diskurs will und Prozessen die Zeit lässt, die sie brauchen, der seine Freundschaften nicht auf »Likes« zu reduzieren bereit ist, der das ungefragte unkontrollierte Absaugen persönlichster Daten als Verletzung seiner Privatsphäre und seiner Würde empfindet, »Sand im Getriebe«. Dies zu sein, ist das mindeste, das Zuboff für nötig hält. Aber eigentlich ist sie auf der Suche nach einer Alternative, einem Gesellschaftsvertrag, in dem das Computerwesen und das Internet, von Menschen für Menschen gemacht, diesen dienen und nicht als Instrumente der Instrumentalisierung von Menschen missbraucht werden.

Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, 727 S., geb., EUR 29,95, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2018