Das Licht der Waldorfschule

Johannes Roth

So spricht der Kaufmann Thomas Buddenbrook in Thomas Manns Roman Buddenbrooks – Verfall einer Familie angesichts des anstehenden (und aus gesellschaftlichen Gründen zwangsläufig zu feiernden) hundertjährigen Jubiläums, sozusagen »Buddenbrooks100« … Er ist von tiefem Pessimismus erfüllt und lässt die glänzenden Feierlichkeiten als eine Seelenqual über sich ergehen. Die Symptome des Verfalls hat er längst erkannt und als solche gedeutet.

Wir müssen dem in diesem Meisterwerk der deutschen Literatur gezeichneten Verfallsgesetz im Hinblick auf »Waldorf100« nicht mit absoluter Konsequenz folgen, aber wer das entsprechende Kapitel in Manns Roman aufmerksam liest, wird bedenkenswerte Momente und Wendungen darin finden.

Um zur Selbstbesinnung anzuregen, hat Peter Selg bereits vor einem Jahrzehnt eine Vortragsnachschrift über Der geistige Kern der Waldorfschule veröffentlicht, welche zu lesen auch heute sehr lohnend ist. – Neuerlich ist von ihm eine Vortragsnachschrift erschienen, die in ähnlicher Weise und doch mit einem ganz anderen Gedankengang den Blick auf den Gründungsimpuls richtet. Selg entwickelt, wie darin nicht nur ein (raphaelischer) Heilungsimpuls und ein (michaelischer) Selbsterkraftungsimpuls zu finden sind, sondern letztlich in den Zielen »Idealbildung, Kunstschaffen, Resilienz und Salutogenese« das Christus-Wirken erkennbar ist.

Es kann nicht ausbleiben, auf die Vertikalspannung zu kommen, die zwischen dem Ideal und der gegenwärtigen Praxis besteht. Selg schreibt dazu gegen Ende des Büchleins eine deutliche Ermutigung, indem er darauf hinweist, dass die »Ahnung der ›wahren‹ Waldorfschule den Eltern und Jugendlichen in und anhand der ›real existierenden‹ erwächst, die immerhin einen Aspekt – oder auch mehrere Aspekte – der ›wahren‹ Schule bis heute in sich trägt.«

Peter Selg: Das Licht der Waldorfschule, brosch., 80 S., EUR 10,–, Ita Wegman Institut, Arlesheim 2019