Der Geschichtsunterricht an Waldorfschulen

Andre Bartoniczek

M. Michael Zech unternimmt mit seiner Dissertation den längst fälligen Versuch, hinsichtlich der Geschichtsdidaktik eine Brücke zwischen Waldorfpädagogik und Erziehungs­wissenschaft zu schlagen.

Er referiert zunächst den aktuellen geschichtsdidaktischen Diskurs im Hinblick auf zwei wesentliche Themen, die auch zentrale Bestandteile des waldorfpädagogischen Ansatzes im Geschichtsunterricht sind. Das erste ist das Motiv des Kompetenzaufbaus (geschichtliches Lernen als Persönlichkeitsentwicklung), das zweite die Notwendigkeit, den inhaltlichen Horizont im Blick auf unsere moderne globalisierte Welt weltgeschichtlich zu weiten. Einen Hintergrund für beide Gesichtspunkte bildet der Begriff des »Geschichtsbewusstseins« (Pandel, Jeisman u. a.): die Entwicklung historischen Denkens als eigentliche pädagogische Zielsetzung. Dann schildert er, wie der Lehrplan der Waldorfschule entstanden ist, um von dort aus die Waldorfpädagogik und die gegenwärtigen Tendenzen der Geschichtsdidaktik aufeinander beziehen zu können.

Zum ersten Mal wird systematisch verfolgt, wie sich über 90 Jahre eine Lehrplantradition herausbildet, die zugleich aber nie kanonisch werden will, sondern immer den Lehrer als »Mitautor« voraussetzt – die Porträts der hierfür maßgeblichen »Anreger« (von Steiner über Stein, Tautz, Gabert, Lindenberg, bis hin zu Esterl, Schmelzer und Götte) sind sehr plastisch und eindrücklich. Zugleich wird aber auch die enorme Herausforderung deutlich, die für den heutigen Lehrer dadurch entsteht, dass er autonom sein soll, sich dafür aber fachliche und anthropologische Kompetenzen erarbeiten muss.

Woraus gewinne ich die Kriterien für die Gestaltung meines Unterrichts? Woher weiß ich, dass mich da nicht Willkür treibt? Diese Fragen werden heute existenziell, und zugleich zeigt sich, dass die Motive der aktuell führenden Geschichtsdidaktiker der Waldorfpädagogik entgegenkommen: Der Unterricht soll weltgeschichtlicher ausgerichtet sein; an die Stelle bloßer Wissensvermittlung soll die Förderung anthropologisch verankerter Fähigkeiten treten – damit würde der eigentliche Sinn von Erziehung in den Fokus rücken.

Zech macht deutlich, wie der Kompetenzbegriff noch wesentlich differenziert und konkretisiert werden müsste. Hier warten Forschungsaufgaben. Dies gilt allerdings auch für Zechs Gleichsetzung von Geschichtserkenntnis und Narration: Ist die Geschichte ein erzählerisches Konstrukt – nie reale Vergangenheit? Kann Geschichtsunterricht dann wirklich Sinn stiften? M. Michael Zech hat mit seiner Schrift einen für die Waldorfschulbewegung und die Erziehungswissenschaft gleichermaßen bedeutenden Diskussionsanstoß gegeben.

Michael Zech: Der Geschichtsunterricht an Waldorfschulen: Genese und Umsetzung des Konzepts vor dem Hintergrund des aktuellen geschichtsdidaktischen Diskurses, geb., 394 S., EUR 49,95, Peter Lang, Verlag der Wissenschaften, Pieterlen – Schweiz 2012