Die Gegenwart des Unverlorenen

Anna Seydel

Wer Hartwig Schillers Buch zu lesen beginnt, findet sich schon nach wenigen Seiten selber auf der Suche, auch wenn er nicht gleich weiß, wohin diese führt.

Ereignisse, Entwicklungen, Strömungen, charakteristische Lebensläufe aus der jüngsten Vergangenheit werden geschildert und nach ihren Entwicklungstendenzen befragt. Dabei werden Texte, Gedichte und Zitate einbezogen und bald wird klar, dass sie beispielhaft die Suche nach dem Unverlorenen als Keim zukünftiger Entwicklung enthalten. Aber es finden sich auch gegenteilige Beispiele, die Keime vernichtender Entwicklung in sich tragen.

Schiller wendet sich besonders den beiden Jahrhundert-Übergängen vom 19. zum 20. und vom 20. zum 21. Jahrhundert zu. Das ist außerordentlich spannend, da man aufmerksam wird für die eigene Zeit und den Platz, den man als Zeitgenosse inne hat. Von diesem Augenblick an fühlt man sich als Teil des Geschehens, eben auf der eigenen Suche nach dem Unverlorenen, der Menschlichkeit, dem Geist der Menschheit. Schiller macht vorsichtig und in feiner, ausgewogener Sprache deutlich, dass es sich hierbei letztlich um die Suche nach Christus handelt. Denn auf diese Erfahrung richtet sich heute die Sehnsucht der Menschen. Er charakterisiert Situationen, durch die man sich dieser Mittelpunktserfahrung annähert. Es sind zuweilen ganz unspektakuläre Gesten und Entwicklungsschritte, Versuche der Selbstüberwindung und des »guten Willens«, denen aber stets etwas Leben Förderndes, Zukunftshaftes innewohnt. Wenn die Suche unversehens zu einer realen Begegnung mit dem Unverlorenen führt, ist sie, wie Schiller sich ausdrückt, »von bestürzender Wirkung«. Denn man begegnet dem völlig Unerwarteten, einem »Überrealen«, einem »Angeschaut-Werden«. Und das ist erschütternd. Zumal sich diese Begegnung oft im Zusammenhang mit einer persönlichen Gefahren- oder Todessituation ereignet, die ausweglos erscheint und den Menschen mit der eigenen Nichtigkeit konfrontiert. Dann aber zeigt sie ihre Einmaligkeit und erweist sich als die Erfahrung einer ungeahnten, die ganze Biographie verändernden Aufhellung.

Diese Tatsache hat Rudolf Steiner in vielen seiner Vorträge als »das Wiedererscheinen des Christus in der ätherischen Welt« geschildert. Heute werden diese Tatsachen untergründig ersehnt und beginnen, bewusstseinswach erfahren zu werden.

Davon spricht Schiller. Er ist ein profunder Kenner der europäischen Geschichte und der Kunst, Zusammenhänge zu schauen, aus ihnen das Wesentliche zu lesen und es sprachlich nachvollziehbar darzustellen. Er hat ein tiefgründiges Interesse am Menschen, an seiner Entwicklung und an den vielfältigen Erscheinungsformen seines Sich-Darlebens. Was er schreibt und wie er schreibt, zeigt tiefste Authentizität. 

Hartwig Schiller: Die Suche nach dem Unverlorenen: Von der Gegenwart des Christus in der Wirklichkeit, geb., 320 S., EUR 19,90, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2011