Die Muslimbruderschaft im Blick

Bruno Sandkühler

Das Scheitern der Mursi-Regierung und die darauf folgenden dramatischen Ereignisse beschäftigen bis heute die Medien. Ein verlässliches Bild dieser islamischen Bruderschaft fehlt aber bisher auf dem deutschsprachigen Büchermarkt – nicht einmal die grundlegenden Schriften des Gründers Hassan Banna liegen in deutscher Übersetzung vor.

Die österreichische Politikwissenschaftlerin und Journalistin Petra Ramsauer hat nun aus Quellen und Interviews eine umfassende Bestandsaufnahme zusammengestellt. Sie geht von den Vorgängen der letzten beiden Jahre in Ägypten aus und legt den Schwerpunkt auf den geheimen, subversiven Charakter der Bruderschaft. Damit entsteht ein eindrückliches Bild der Strukturen und politischen Strategien, des Lavierens zwischen sich religiös gebenden Ansätzen und Machtbestrebungen, die immer wieder in Gewalt münden.

Ein Kapitel ist der wichtigen Rolle der Frauen gewidmet, die noch immer einen wesentlichen Anteil an der Verwurzelung der Muslimbruderschaft im Volk haben. Was in der Darstellung nur gestreift wird, sind die Wohltätigkeitsaktivitäten der Muslimbrüder. Bei vielen Frauen und dörflichen Sozialhilfegruppen herrscht eine selbstlose und apolitische Gesinnung. Wären sie nicht unter der dreißigjährigen Mubarak-Herrschaft überall dort sozial tätig geworden, wo die Regierung versagte, hätte die Bruderschaft niemals das politische Gewicht erlangt, das 2011/12 schließlich ihre Wahlerfolge ermöglicht hat. An einigen Stellen sollte man die Angaben hinterfragen, zum Beispiel wenn es einerseits heißt, dass jedes Mitglied der Bruderschaft vor der Vollmitgliedschaft ein Jahrzehnt lang akribisch geprüft werde und vierzig Koranverse beherrschen müsse – das kann jedes ägyptische Schulkind, aber wahrscheinlich sind hier nicht Koranverse, sondern ganze Suren gemeint.

Ebenfalls nicht ganz plausibel ist, dass es bei diesem strengen Aufnahmeverfahren innerhalb von zwei Jahrzehnten zu 500.000 Vollmitgliedern gekommen sein soll.

Man sieht dem Buch an, dass es rasch fertig gestellt wurde, wohl um die Aktualität zu nutzen, aber das Material ist solide recherchiert und eingängig dargestellt. In jedem Fall stellt es eine wichtige Handreichung für Lehrer und politisch Interessierte dar.

Eine weitere, soeben erschienene Studie verdanken wir Annette Ranko, die 2013 ihr Studium mit der preisgekrönten Dissertation »The Egyptian Muslim Brotherhood under Mubarak« abgeschlossen hat. Während eines Studienjahres in Kairo konnte sie unterschiedlichste Kontakte knüpfen, so dass ein unmittelbares und sehr differenziertes Bild der Muslimbruderschaft und ihrer Entwicklung entstand.

Auch Ranko zeigt, wie die Muslimbrüder zwischen ideologischen Dogmen und Anpassung an demokratische Politik­formen in einem Umfeld staatlicher Repression hin und her schwanken. Es wird verständlich, wie durch das weit gespannte soziale Netzwerk der Brüder die Verwurzelung im Volk entstehen konnte, die dann in den Jahren 2011 und 2012 zu den eindeutigen Wahlsiegen führte. In zwei Kapiteln geht Ranko der Frage nach, wie diese Wahlsiege verspielt werden konnten, indem politische Klugheit und soziales Engagement zugunsten eines unverhüllten Machstrebens aufgegeben wurden.

Einen breiten Raum nimmt in der Darstellung immer wieder das Verhältnis der Generationen ein, das wohl auch im weiteren Verlauf des Geschehens eine entscheidende Rolle spielen wird. Aus dem Durchschnittsalter der Ägypter von 26 Jahren und einer zunehmenden politischen Wachheit ist zu erwarten, dass die herkömmlichen Macht- und Gewaltstrukturen immer mehr unter Druck geraten werden.

Das Problem jeder aktuellen Berichterstattung aus Ägypten besteht darin, dass zur Zeit alles im Fluss ist, dass einerseits der Staat eine paranoide Angst vor jeglicher Opposition hat, andererseits aber eine unerschrockene Jugend am Werk ist, Missstände offen zu legen und zukunftsfähige Strukturen zu schaffen, mit Plattformen wie »Mada Masr«, Blogs oder Facebookforen. Auf der anderen Seite zeigt sich in ständigen Protestaktionen ein zähes Durchhaltevermögen der Muslimbrüder trotz der Ausschaltung ihrer führenden Köpfe und willkürlichen Verhaftungen. Es ist also wohl nicht abwegig, die Organisation nach wie vor als mächtig zu bezeichnen, zumal sie ja auch noch international verflochten ist – worauf die Autorin in den letzten Kapiteln eingeht.

Annette Ranko ist es gelungen, ein eindrückliches Bild zu zeichnen. Vielleicht wäre manchem Leser die eine oder andere Konkretisierung willkommen, zum Beispiel durch Zitate aus den Schriften Hassan Bannas oder Sayyed Qutbs, ein Aufzeigen unterschiedlicher Strömungen in »den« Moscheen, oder des Wesens der Scharia, die für den Westen mehr Schreckgespenst als verstehbares Prinzip ist. Das schmälert aber nicht den großen Wert des Bandes, der zusammen mit dem Buch Petra Ramsauers ein sehr vielseitiges Bild der Muslimbruderschaft bietet.

Petra Ramsauer: Muslimbrüder – Ihre geheime Strategie, ihr globales Netzwerk, Hardcover, geb., 208 S., EUR 19,99, Molden Verlag, Klagenfurt 2014

Annette Ranko: Die Muslimbruderschaft – Porträt einer mächtigen Verbindung, kart., Klappenbroschur, 164 S., EUR 14,–, edition Körber Stiftung, Hamburg 2014