Die Waldorfschule und ihre Menschen

Christof Wiechert

Wirft man ein Steinchen in einen See, ziehen Wellen konzentrische Kreise von der Einwurfstelle zum Ufer hin. So beginnt der erste Band: Die Schulgründung 1919 in Stuttgart steht im Zentrum, danach erscheinen die Nachfolgegründungen hervorgegangen aus dieser ersten Waldorfschule. Das »Ufer« ist der Einschnitt durch den Zweiten Weltkrieg. Immerhin gab es bis dahin 42 Schulgründungen. Der zweite Band schildert die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Es werden 39 Schulen in Europa beschrieben. Der dritte Band blickt auf die außereuropäischen Schulen – Nordamerika, Kanada, Südamerika, Australien und Neuseeland, Afrika, Asien und China –  und endet mit einem Kapitel über die internationale Zusammenarbeit. Alle drei Bände sind reich bebildert.

In ihrem Vorwort schreibt Nana Göbel angesichts des Umfanges dieses Projektes und der Dichte der Fakten, sei es eher ein Nachschlagewerk geworden. Doch die Lese-Erfahrung ist eine andere: Die Inhalte kommen flüssig und überzeugend, nahezu fesselnd. Eigentlich ist alles Dargestellte wie ein überdimensionierter Tolstoj-Roman: Die Fakten stehen immer in einem bedeutungsgebenden Zusammenhang. Der Stil ist sachlich, ohne Interpretation von Seiten der Autorin, mit wenigen kleinen Ausnahmen.

Es grenzt an Unwahrscheinlichkeit wie ein einzelner Mensch solche Unmengen an Daten, Namen, Fakten, Zusammenhängen, Geschehnissen hat recherchieren, festhalten und archivieren können. Und das weltweit! Bescheiden sagt die Autorin im Vorwort, die Arbeit bei den »Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners« habe es ihr ermöglicht. Das ist ein Teil der Wahrheit. Der andere Teil ist die Liebe zur Sache und ihre außergewöhnliche Fähigkeit, Fakten, Namen, Vorgänge und Vorfälle zu verinnerlichen und festzuhalten. Kritisches wird nur angedeutet und dem Leser ein Urteil überlassen. Alles Dargestellte leuchtet im Licht der Liebe zur Waldorfschulbewegung.

Nana Göbel hat der weltweiten Waldorfbewegung ein Gedächtnis gegeben, in dem jeder lesen kann. Tausende von Menschen, Lehrern, Schulgründern und Inspiratoren werden (wieder) sichtbar und aus der Anonymität befreit, erscheinen in kurzen, manchmal etwas längeren Skizzen über ihr Wirken und Tun. Es ist, als ob die Schulbewegung erwacht: Alle genannten Tatsachen, wo immer sie sich auch abgespielt haben in der Welt, sind jetzt mit Menschen verbunden und durch ein Bewusstsein gegangen, das im Leser auferstehen kann. Dadurch wird eine Gemeinschaft über drei Generationen hinweg sichtbar, die sich vorgenommen hat, eine menschengerechte Erziehung auf die Erde zu bringen. Das sucht an Bedeutung seinesgleichen.

Ein Geschenk für alle Waldorfbewegten, die an der Grenze stehen zum zweiten Jahrhundert Waldorfschule – nicht nur an einer Grenze, sondern auch an der Schwelle, vor der wir stehen: Sie zu überschreiten, dafür sind diese drei Bände eine große Hilfe, zeigen sie doch, wie Generationen vor uns es machten.

Welchen Band man auch aufschlägt, die Geschichten sind allesamt ergreifend: Wer wusste, dass Portugal 1980 die Waldorfmethode in allen Primarschulen fast eingeführt hätte? Wer wusste, dass die Urkindergärtnerin in Italien, Elisabeth Pederiva eine Tochter von Auguste Arenson und Carl Unger war? – Wer wusste, dass die Waldorfschule in Colmar Mathias Grünewald Schule heißt und von einer Ehemaligen der Waldorfschule Uhlandshöhe, Else Zimmer, mitbegründet wurde? – Wer wusste, dass Tobias Richter zusammen mit der Professorin Slavica Basic Kurse an der Zagreber Universität gab, die schon 2008  zu einem M.A. in Waldorfpädagogik führten? Wer wusste, wie erstaunlich modern im Sinne der Dreigliederung, schon 1918 das am 11. September verabschiedete Gesetz zur Schulverwaltung in Armenien war? Wer wusste, dass es schon 1926 eine Waldorfschule in Budapest gab?

Wie erschreckend lahm ist unser historisches Bewusstsein, das leicht vergisst, wie heftig und oft die anthroposophische und die Schulbewegung angegriffen wurden. Beispiel Frankreich im Jahre 1999: der massive Angriff durch Geheimdienste und Ministerien, um den Sektenvorwurf von 1982 zu erhärten. Viel, was da steht, ist heute noch hochgradig aktuell und liest sich stellenweise wie ein Krimi. Beispiel England, wo es der Schulbewegung nicht gelungen ist, sich wirtschaftlich gesichert aufzustellen, trotz der namhaften Pioniere wie Brian Masters, Francis Edmunds, John Davy, Ron Jarman, Martyn Rawson, Christopher Clouder, John Burnett, Shirley Noakes und Charles Kovacs, dessen Epochenvorbereitungen immer noch verkauft werden.

Je weiter man in der Zeit zurückgeht, um so unbürgerlicher und willensbetonter war das Auftreten der Kollegen; um soziale und wirtschaftliche Wirrnisse schienen sie sich wenig zu kümmern. Was zählte, war der Aufbau dieser Pädagogik und die internationale Vernetzung nach dem Zweiten Weltkrieg. In diesem Zusammenhang taucht wieder die Gestalt Ernst Weißerts auf, jetzt im Zusammenhang mit der Begründung der »Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners« im Jahre 1976; ihm war man schon 1921 bei der Schilderung einer autonomen selbstverwalteten Lehrerbildung, dem sogenannten Jena-Zwätzener pädagogischen Arbeitskreis, begegnet. Solche Querverweise zeigen einmal mehr die schicksalhaften Verbindungen der Menschen auf.

Die vorliegende Trilogie darf in keiner Lehrerbibliothek, eigentlich auf keinem Waldorflehrer- oder Waldorferzieherbücherbrett fehlen.     

Nana Göbel: Die Waldorfschule und ihre Menschen. Weltweit. Geschichte und Geschichten 1919 bis 2019, 2107 S. geb., Jubiläumspreis bis 31.12.2019 EUR 79,– (ab 01.01.2020 EUR 129,–). 3 Bände im Schuber, Freies Geistesleben, Stuttgart 2019