Digi-Sphinx

Andreas Luckner

Die Frage kann daher nicht länger sein: Wie können wir diesen eventuell missliebigen Prozess aufhalten, sondern vielmehr: Welche Kräfte können aktiviert, welche Fähigkeiten ausgebildet und welche Einstellungen kultiviert werden, damit die Menschen diesen Prozess sich in lebensförderlicher Weise anzueignen und zu bewältigen imstande sind?

Wie auch schon Edwin Hübner im letzten Jahr im gleichen Verlag erschienenen Buch Menschlicher Geist und Künstliche Intelligenz (welches sich komplementär ergänzend zu dem hier besprochenen Buch lesen lässt) bringt auch Patzlaff hier fruchtbar den Mythos der Sphinx ins Spiel. Wenn die Menschen mittlerweile auch schon ihr Denken (wenn auch nur ihr abstraktes, verstandesmäßiges Denken) den Maschinen bzw. Algorithmen übertragen, werden wir durch die technologische Sphinx mehr und mehr zu einer Antwort herausgefordert, wer der Mensch eigentlich sei.

Nach einer ausführlichen, dabei immer spannend zu lesenden Vorgeschichte des digitalen Zeitalters vom Fernsehen bis zum Smartphone beschreibt Patzlaff eindrücklich und wohl auch absichtlich schonungslos die dunklen Seiten der Entwicklung. Phänomene wie die zunehmende, ja pandemische Vereinzelung der »User«, omnipräsente Überwachung, Cybermobbing, brutalste Gewaltvideos, die Verbreitung von Kinderpornographie und leider vieles andere mehr lassen keinen anderen Schluss zu, als dass sich im Netz das Böse geradezu entfesselt. Dem entspricht die scheinbare Ohnmacht des Geistes durch die »Isolationshaft«, die er in den Filterblasen und Echokammern des Internets erfährt, durch die Aufweichung der Wahrheit durch die immensen Manipulationsmöglichkeiten von Informationen (Fakenews etc.), um hier nur einiges zu nennen.

Es ist nicht einfach, sich durch diese langen Passagen zu lesen, aber durchaus bewusstseinsschärfend. Und es gibt zum Glück auch Licht am Ende des Tunnels: Aus der Erkenntnis darüber, was sich eigentlich in diesem Wandlungsprozess vollzieht – nämlich die vollständige Materialisierung des Menschlichen – können wir nämlich auch ersehen, was zu tun ist: Die Entwicklung der freiwerdenden Kräfte des Menschen als eines geistigen Wesens. Eine gewisse Ironie (Patzlaff spricht von »ahrimanischer Aporie«) dabei ist, dass die Notwendigkeit dieses Durchgangs durchs Nadelöhr hin zu einer Bewusstheit des geistigen Wesens des Menschen durch die Technisierung selbst induziert wird. Nirgendwann besser als heute können wir ja erfahren, dass gerade die Leiblichkeit des Menschen Ausdruck seines geistigen Wesens ist. Vor allem am Sprechen als dem Real-Geistigen schlechthin kann man dies nachvollziehen, wie Patzlaff eindrücklich zeigt, in Rückgriff u.a. auf sein Buch Sprache – das Lebenselixier des Kindes von 2017.

Technikfeindschaft oder Hoffnungslosigkeit ist daher nicht angesagt; vielmehr geht es darum, durch den Nullpunkt der nur in der materiellen Welt möglichen und durch sie forcierten Individualisierung bzw. Vereinzelung zu gehen, um auf der anderen Seite das punktuelle Ich auszuweiten hin zu einem vollbewussten, kosmopolitisch geweiteten Ich, einem altruistischen höheren Selbst – dies ist eine andere Idee von Singularität als diejenige der technoiden Transhumanisten!

Die technologische Herausforderung lässt sich nur bewältigen, wenn wir Einblick gewinnen, in das, was sich in der Technikentwicklung des digitalen Zeitalters vollzieht. Dieses Buch liefert hierfür einen wichtigen Beitrag zur richtigen Zeit.

Rainer Patzlaff: Die Sphinx des digitalen Zeitalters. Aspekte einer Menschheitskrise, 348 S., Klappenbroschur, EUR 24,–, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2021