Ein französischer Klassiker neu aufgelegt

Arne Ulbricht

Es geht um einen Jungen, Rémi, der in einem bitterarmen Dorf im neunzehnten Jahrhundert im ländlichen Frankreich lebt und von seiner Pflegemutter geliebt wird, während ihn sein Pflegevater verkaufen möchte. Und das tut er auch. Daraufhin zieht Rémi mit dem Straßen- und Überlebenskünstler Vitali, drei Hunden und einem Affen durch Frankreich und erlebt unzählige Abenteuer. (Im zweiten Teil des Romans ist Rémi mit einem gleichaltrigen Jungen unterwegs.) Dafür, dass dieses Buch Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen fasziniert, gibt es verschiedene Gründe.

Zum einen stellt sich der Leser von den ersten Seiten an die Frage: Wird Rémi jemals seine leiblichen Eltern wiederfinden? Diese Spannung hält bis zum Schluss. Zum anderen sind die Abenteuer, die er auf seiner Reise durchs ländliche Frankreich mit Abstechern in die Städte Lyon und Paris erlebt, derart aufregend, dass man als Leser durchgehend mit dem Helden mitfiebert. Das heißt, dass man mit ihm friert und hungert und froh ist, wenn es ihm gelingt, doch noch einen Unterschlupf zu finden. Man kämpft mit ihm gegen ein Wolfsrudel. Man arbeitet mit ihm in einem Bergwerk und ist mit ihm im Stollen gefangen. Und all das ist auch deshalb so spannend, weil man weiß: Es geht nicht immer alles gut! Denn die Handlung spielt in einem Zeitalter, in dem Frauen bei der Geburt und junge Menschen an einer Lungenentzündung sterben konnten. Das ist manchmal herzzerreißend. Aber da es durchgehend um Freundschaft geht, um den gemeinsamen Kampf gegen alle möglichen Unwägbarkeiten, liest sich dieser Roman insgesamt wie eine Liebeserklärung ans Leben, und irgendwie sehnt man sich danach, unserer Hochglanzgesellschaft für einen Moment lang zu entfliehen und mit Rémi durchs Land zu ziehen. Die Übersetzung ist der heutigen Sprache angepasst, und das ist gut so! Man hat durchgehend das Gefühl, einen modernen Roman zu lesen. Last but not least: Die Illustrationen von Charlotte Dematons sind vortrefflich: Ich habe selten so dunkle Wälder und so grün leuchtende Wiesen gesehen. Ihr gelingt es auf geniale Weise, die jeweilige Stimmung einzufangen.

Am Ende klappt man dieses Buch zu und ist ein wenig traurig. Denn es gibt keine sieben Teile wie bei Harry Potter. Der Roman steht für sich. Aber immerhin: Man kann ihn immer wieder lesen!

Hector Malot: Nie mehr allein. Illustriert von Charlotte Dematons. geb., 304 S., EUR 25,– Urachhaus, Stuttgart 2018