Freiheit – im Gehirn versenkt?

Lorenzo Ravagli

Der neueste Band, der die Beiträge des Kolloquiums 2018 enthält, schürft nach der menschlichen Freiheit in den Gehirnbahnen und den Untiefen der Gesellschaft. Neurowissenschaftler huldigen nach wie vor jenem von Popper akzentuierten Schuldscheinmaterialismus, der fortlaufend Wechsel auf die letzte Erklärung für emergente Realitäten wie den Geist oder den freien Willen ausgibt, mit dem Versprechen, sie durch künftige Forschung zu decken, oder gar mit der Beteuerung, sie seien durch die bisherige bereits ausreichend besichert.

So heißt es zum Beispiel: »Verschaltungen im Gehirn legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen«. Verbreitet ist die Redeweise, die an die Stelle des menschlichen Subjekts ein Objekt setzt, dem von ebenjenem Subjekt selbstvergessen die Funktion zugeschrieben wird, die es selbst ausübt. Erst muss das Subjekt freiwillig abdanken und sich für unzuständig erklären – natürlich, ohne dies zu realisieren –, um sagen zu können: »Mein Gehirn denkt, mein Gehirn stellt sich vor, mein Gehirn will.« Das Bewusstsein – und damit auch unser Denken mitsamt seinen hochkomplexen Operationen– wird von diesem vergötzten Organ erzeugt, die Freiheit muss demnach als die »Illusion« demaskiert werden, die sie ist. Unser Gehirn – wer denn sonst? – spiegelt uns diese nur vor und konstruiert auch die Illusion einer Person, eines Ich, die zerstiebt, sobald man seine materielle Grundlage chemisch manipuliert oder unter das Messer des Chirurgen legt.

Was uns als freie Entscheidung erscheint, ist ein Ergebnis evolutionärer Anpassung, die Alternativen, zwischen denen wir scheinbar wählen, sind immer schon vorgegeben; Flucht oder Angriff, damit ist im Grunde genommen alles gesagt. Nur wenige ziehen daraus aber die Konsequenzen, die eigentlich gezogen werden müssten: die Abschaffung jeglicher Verantwortung, jeglicher Zurechnung, jeglicher Moral. Wenn wir durch unser Gehirn determiniert sind, das wiederum durch seine Gene determiniert ist, die wiederum durch die Evolution determiniert sind, dann können wir in Wahrheit für unsere Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden, dann erübrigt sich das gesamte Strafrecht. Der Mechanismus der ineinander verschränkten, auf unterschiedlichen Ebenen gegeneinander oder ineinander wirkenden Determinismen ist zwar komplex und für unser Gehirn (das den sonderbaren Ehrgeiz entwickelt, seine selbst erzeugten Illusionen auch noch zu durchschauen) möglicherweise nie wirklich ergründbar, aber das ändert nichts an seiner Macht – so sagt man.

Zu Recht weisen die Herausgeber des vorliegenden Tagungsbandes darauf hin, dass »eminent wichtige zivilisatorische Errungenschaften der Neuzeit und der westlichen Moderne wie die politischen Freiheiten, die Wissenschafts- und Lehrfreiheit sowie die personalen Freiheiten« auf der Anerkennung einer ursprünglichen Freiheit beruhen, die nicht weiter erklärbar ist, sondern in sich selbst gründet, weil sie die Gründe, aus welchen sie sich bestimmt, als ihre ureigenen Bestimmungsgründe in sich findet. Was hätten all die hehren Gesänge von der Demokratie, der Emanzipation, der Gleichstellung für einen Sinn, wenn wir den Zwängen unserer Biologie nicht entkommen könnten, sondern so denken und uns verhalten müssten, wie unser Gehirn oder ein anderes Organ, das wir für identitätsbestimmend halten, gewachsen ist?

Zum Glück »mehren sich die Stimmen« in den Wissenschaften, dass die »lebensweltlich erfahrbare« subjektive Freiheit »mit den Erkenntnissen der Neurowissenschaften, der Verhaltensökonomik und der Psychologie durchaus vereinbar ist«. Zumindest beteuern dies die Herausgeber. Wer sein Erkenntnisschiff zwischen der Skylla des Determinismus und der Charybdis des Indeterminismus erfolgreich hindurchmanövrieren will, muss ihrer Auffassung nach zu beiden die gleiche Distanz wahren und sich mit der Tatsache anfreunden, dass die Flügel, die uns in den Himmel tragen, aus unseren Schulterblättern wachsen. Weniger poetisch ausgedrückt: »Die Freiheit ist ein kostbares Gut, das innerhalb von vielen unfrei machenden Faktoren erst erworben werden muss«. Wir müssen sie erwerben, wenn wir sie besitzen wollen und erfahren doch, dass wir stets von ihrem Verlust bedroht sind. Das gilt nicht nur für ihre biologischen, sondern auch für ihre gesellschaftlichen Bedingungen. Dass sich die Herausgeber mit Blick auf die Beiträge des vorliegenden Bandes zuversichtlich über die Versöhnbarkeit von Natur- und Geisteswissenschaften äußern, dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Verfasser keine Fachidioten sind, sondern allesamt Wissenschaftler mit einem »nicht-reduktionistischen Ansatz«, deren Anliegen ein »ganzheitliches Menschenbild« ist. 

Der Bogen reicht von der Neurowissenschaft, aus der »die Hauptgegner der menschlichen Freiheit stammen«, über eine philosophische Phänomenologie des Freiheitserlebnisses, das Problem der unbewussten Antriebe bis hin zu sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Determinismen, die alle ins rechte Verhältnis gesetzt werden müssen, damit am Ende ein »humanistisches« Verständnis der Freiheit herauskommt, das den ganzen Menschen in den Blick nimmt und nicht nur einen Körperteil oder irgendwelche postulierten, verborgenen Mechanismen genetischer oder evolutionärer Art.

Natürlich muss bei der Erörterung dieser Fragen der Kausalitätsbegriff problematisiert werden: Ursache ist eben nicht gleich Ursache; Objekt und Begehren, Grund und Folge stellen kategorial andere Formen von Zusammenhängen dar, als die mechanischen Reihen, die wir aus aneinander geknüpften Ketten von Ursachen und Wirkungen ableiten, um durch sie Naturvorgänge zu erklären und Maschinen zu konstruieren. Es ist ebenso beliebt wie dümmlich, die Funktionsweise des menschlichen Gehirns aus einer Maschine zu erklären, die zuerst von diesem Gehirn hervorgebracht wurde, um sich nachträglich aus deren Funktionsweise verstehen zu können; was genauso für die Analogie von Gehirn und Bewusstsein oder Hardware und Software gilt.

Großen Raum nimmt die Auseinandersetzung mit dem von Benjamin Libet ersonnenen Experiment ein, aus dessen Ergebnissen manche Schuldscheinmaterialisten den vorschnellen Beweis dafür herauslasen, die Entdeckung vorauslaufender elektrischer Erregungsmuster in der Hirnrinde habe der Freiheit endgültig den Garaus gemacht. Peter Heusser plädiert energisch dafür, sich von der Verwechslung von Ursache und Wirkung zu verabschieden, die allen reduktionistischen Erklärungen zugrunde liegt, die physiologische Begleiterscheinungen der seelischen und geistigen Tätigkeit für primär und letztere für sekundär halten.

Schließlich darf auch eine Auseinandersetzung mit den Theorien des Unbewussten nicht fehlen, die heute nach wie vor attraktiv sind, wenngleich die psychischen Urwelttheorien Freuds längst ad acta gelegt wurden. Am Ende des Bandes steht eine energische Verteidigung der bürgerlichen Freiheit, des höchsten aller Werte, der das Fundament und den Giebel der sich als modern verstehenden westlichen Gesellschaften bildet, die aus der Philosophie der Antike und dem Christentum (genauer: dem Protestantismus) hervorgewachsen sind. Matthias Kettner zitiert dazu Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dem wir hier das letzte Wort lassen, wie es sich gebührt: »In den Griechen ist erst das Bewusstsein der Freiheit aufgegangen und darum sind sie frei gewesen, aber sie, wie auch die Römer, wussten nur, dass einige frei sind, nicht der Mensch als solcher. Darum haben die Griechen nicht nur Sklaven gehabt, [...] sondern auch ihre Freiheit war selbst teils nur eine zufällige, vergängliche und beschränkte Blume, teils zugleich eine harte Knechtschaft des Menschlichen, des Humanen. – Erst die germanischen Nationen sind im Christentume zum Bewusstsein gekommen, dass der Mensch als Mensch frei, die Freiheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht; dieses Bewusstsein ist zuerst in der Religion, in der innersten Region des Geistes aufgegangen; aber dieses Prinzip auch in das weltliche Wesen einzubilden, das war eine weitere Aufgabe, welche zu lösen und auszuführen eine schwere lange Arbeit der Bildung erfordert. [...] Diese Anwendung des Prinzips auf die Weltlichkeit, die Durchbildung und Durchdringung des weltlichen Zustandes durch dasselbe ist der lange Verlauf, welcher die Geschichte selbst ausmacht. [...] Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.« 

Oder noch ein Stück weit radikaler ausgedrückt: »Es ist also, als die Bestimmung der geistigen Welt, und indem diese die substantielle Welt ist und die physische ihr untergeordnet bleibt, oder im spekulativen Ausdruck, keine Wahrheit gegen die erste hat – als der Endzweck der Welt, das Bewusstsein des Geistes von seiner Freiheit und ebendamit die Wirklichkeit seiner Freiheit überhaupt angegeben worden.« (G.W.F. Hegel, Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1961, S. 60 f.)

Wer diesen Endzweck der Welt beschränkt oder seine Verwirklichung beschneidet, der versündigt sich gegen den Heiligen Geist, den Geist der Geschichte, den Geist der Menschheit – den Geist der Freiheit.

Auf dass dies nicht geschehe oder über uns komme, dazu leisten die Wittener mit ihrem Tagungsband zur Freiheit einen bescheidenen, aber begriffskräftigen Beitrag. Möge er dazu beitragen, die göttliche Flamme in uns allen, die wir dieser historischen Tradition verpflichtet sind, am Lodern zu halten. Denn jenseits der Freiheit liegt die Hölle. 

René Ebersbach / Matthias Kettner / Ulrich Weger / Peter Heusser (Hrsg.): Freiheit?! Freiheitsbewusstsein – Neurowissenschaftliche Tatsachen – Gesellschaftliche Bedeutung, Wittener Kolloquien für Humanismus, Medizin und Philosophie, Band 7, Königshausen & Neumann, Würzburg 2019, 149 S., Euro 29,80.

Buch bestellen