Gerade und Krumme

Günter Graf

Der Ansatz der Autorin: »Dieses Buch wird von der Linie handeln – und von der Pädagogik«, beruht im Wesentlichen auf Gegenüberstellungen und vor allen Dingen Verbindungen der beiden Gebiete. Die Wege dahin sind vielfältig und vielschichtig. Der weite Horizont, der gespannt wird, zeigt sich schon in den Eingangskapiteln. Renate Schiller schildert, wie in der Eröffnungsphase der ersten Waldorfschule 1919 Rudolf Steiner die Lehrplankonzeption für das Formenzeichnen entwickelte und zugleich berichtet sie davon, wie die neuen Wege aussahen, die die bildenden Künstler bis in unsere Gegenwart hinein eingeschlagen haben.

Es ist sehr angenehm, dass das große Kapitel »Didaktischer Teil I Unterstufe« in altersbezogene Segmente untergliedert ist, die immer tiefer in die Sachverhalte einführen.

Der historische und didaktische Teil II zur Oberstufe beginnt mit Betrachtungen und Reflexionen von der klassischen Moderne bis hin zu malerischen Beispielen der Gegenwartskunst. Hier wird deutlich, dass in einer immer freier werdenden Weise mit Linie, Ornament und Rhythmus umgegangen wird, Gegenstands- und illusionistische Raumdarstellung überwunden werden und die Bildfläche als die eigentliche Grundlage der malerischen Gestaltung erkannt und genutzt wird. Schiller breitet ein breites Spektrum im Umgang mit der Linie als Gestaltungselement aus. Nun spielen auch das Malmaterial, Techniken und das bildnerische Experiment eine Rolle, wecken bei den Schülern Neugier und Entdeckungsfreude, fordern die eigene Willenstätigkeit heraus und geben zugleich Sicherheit und Vertrauen in die Kunst, die nicht willkürlich oder belanglos ist.

So ist dieses pädagogisch hervorragende, auf der Menschenkunde Rudolf Steiners fußende und auf die Liebe zur Kunst gegründete Buch uneingeschränkt zu empfehlen. Es ermöglicht allen Lehrern der Waldorfschulen, einen weiten Überblick über das Fach »Malen und Zeichnen«, das oft pragmatischen Gesichtspunkten untergeordnet und gekürzt wird. Dem Klassenlehrer mag es Anregung für das Formenzeichnen und Ausblick sein. Dem Mallehrer eine Herausforderung, die Kunst, das ist der Mensch, der sich entwickelt, konsequenter in seinen pädagogischen Alltag einzubringen. Der gegenüber der Waldorfschule kritische Leser wird erkennen, dass der bildnerische Unterricht nicht weltanschaulich gebunden. Er ist ein durch die Kunst und Menschenkunde begründetes allgemeinbildendes Fach, dem gerade in der heutigen Zeit größte Bedeutung zukommt.

Renate Schiller: Gerade und Krumme. Vom Formenzeichnen, geb., 296 S., EUR 40,–, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2018