Großer Bogen

Barbara Walther

Man wird für seine eigene Unterrichtstätigkeit reich beschenkt, wenn man sich die Zeit nimmt, die mehr als 800 Seiten beider Bände durchzuarbeiten. Das kann man mit Gewinn auch sukzessive tun oder sich einzelne Schwerpunkte daraus vornehmen. Zudem ermutigt die Lektüre, eigene Wege einzuschlagen, um die Jugendlichen in ihrem Individuationsprozess zu unterstützen. Denn das, so Boss, sei die eigentliche Intention der Oberstufenpädagogik und hierfür spiele der Deutschunterricht eine besondere Rolle.

Sein Leben lang war Boss »unterwegs mit Literatur«. Unterwegs-Sein mit Literatur – das wird wohl für die meisten Deutschlehrer eine vertraute Erfahrung sein. Und wer möchte diese nicht gerne den Heranwachsenden vermitteln? Eine gewichtige Frage ist dabei die Auswahl der Lektüre.

Insbesondere im zweiten Band geht er ausführlich darauf ein, indem er ganz unterrichtspraktisch die sogenannten zweiten Deutschepochen der Schuljahre 10-12 vorstellt. Wohlgemerkt so, wie er sie durchgeführt hat. Denn es gibt hierfür im Lehrplan keinen festgelegten Kanon und somit große Freiräume für die Textauswahl und Unterrichtsgestaltung. Ausdrücklich weist der Autor darauf hin, dass viele Variationen möglich sind. Aufmerksame Leser können aus den anschaulichen, menschenkundlich begründeten und didaktisch aufschlussreichen Darstellungen des erfahrenen Pädagogen zahlreiche Anregungen für die Unterrichtsgestaltung und Texterschließung eigener Lektüren mitnehmen. Zudem hat Boss für die 10. Klasse eine ganz besondere Epoche kreiert: »Vom Denken«, in der er seine Schüler auf eine Reise durch die Philosophiegeschichte mitnimmt. Dabei lernen sie die wichtigsten Philosophen und die ihnen eigenen Denkwege kennen, insbesondere die Unterschiede zwischen analytischem und synthetischem Denken, und üben klares, argumentativ schlüssiges Schreiben – für die Sechzehnjährigen eine treffliche Herausforderung.

Die anthropologischen und für die jugendliche Entwicklung relevanten Gesichtspunkte sowie die anthroposophische Begründung für die Themenstellungen, Textauswahl und Gestaltung der zweiten Epoche werden im ersten, weitaus umfangreicheren Band ausführlich dargelegt.

Neu ist die Art und Weise, wie sich Boss seinem Gegenstand nähert, nämlich ausgehend von der Reflexion autobiographischer Schlüsselmomente, wozu eine Nahtoderfahrung gehört, und einer hochinteressanten Mythos-Theorie, die sich ihm aus seinen anthroposophischen, literarischen sowie tiefenpsychologischen Forschungen nach C.G. Jung erschlossen hat.

Boss arbeitet mit seinen Münchener Klassen auf hohem Niveau, das wird nicht überall in der Republik so möglich sein. Individuationswege gehen auch wir Erwachsenen, Wege, die uns stets vor neue Herausforderungen stellen. Der Prozess der Individuation ist nie zu Ende. Exemplarisch kann man dies bei dem ehemaligen Waldorfschüler Günter Boss studieren. So macht er immer wieder deutlich, wie man authentisch aus den eigenen Quellen schöpfen und sich die Themen, wie er sagt, »anverwandeln« kann.

Sein Opus Magnum ist auch ein Lebenswerk. Ihm ist eine wache Leserschaft zu wünschen. Selten hat man die Möglichkeit, einen so intimen Einblick in die Werkstatt eines erfahrenen Lehrers zu bekommen.

Günter Boss: Individuationswege, Band 1: Wenn die Dichtung aus dem Leben einen Mythos macht …; Band 2: Unterwegs mit Literatur, Taschenbuch, 831 S., EUR 36,–, Pädagogische Forschungsstelle Kassel, Kassel 2018