Inspirierende Darstellung

Gabriele Hiller

Nach mehr als vierzig Jahren Unterrichtserfahrung im Fach Kunstbetrachtung an Waldorfschulen und in Projekten, sowie der Erfahrung, dass Kunstunterricht einen anhaltend, ja zunehmend schweren Stand an den Waldorfschulen hat, besteht ein starkes Bedürfnis das eigene Fach frisch zu sichten und zu reflektieren: Was gilt es zu ändern, zu stärken und in einer Doppelstrategie handelnd-argumentativ zu vertreten?

Das 184 Seiten umfassende und in 9 Kapitel gegliederte Buch stellt im Unterschied zu einem historischen Abriss die Frage, woraus Kunstpädagogik besteht und strebt an »eine geordnete Vorstellung des ganzen Faches Kunst zu begründen«. Gesichtspunkte für diese Begründung gehen von der Frage aus, warum sich alle Kinder und Jugendlichen in ihrer Schulzeit mit Kunst schaffend und betrachtend befassen sollten: »Was das Fach zu (ihrem) Menschsein und -werden beitragen kann«. Wunderbar umfassend!

Ebenso umfassend sind seine Adressaten: Es richtet sich an Studenten in Kunstpraxis und -pädagogik, an Seminarleitungen, an Lehrer an allen Schularten und -stufen, die ihr Fach einer reflektierenden Prüfung unterziehen möchten. Allein die Literaturliste umfasst 19 Seiten, dazu kommen vertiefende Literaturhinweise am Ende jedes Kapitels, bestens geeignet für eigene Recherche und Schwerpunkte.

Vergeblich habe ich allerdings nach dem 2015 in zweiter Auflage erschienenen Sammelband »Trau Deinen Augen – Kunstbetrachtung an Waldorfschulen« (herausgegeben von Wolfgang Auer) gesucht, der es in seiner anregenden Vielfalt von Beispielen und Methoden aus Kunstschaffen und Kunstbetrachten verdient hätte, hier mit aufgeführt zu werden.

Eine extrem reichhaltige und methodisch inspirierende Darstellung bis in die Form hinein – und dies auf knappem Raum –, das wäre das kürzeste Fazit. Dem Leser wird durch Komprimierung und Präzision einiges abverlangt, aber jeder Satz führt tiefer in eine komplexe Thematik hinein, in ein Fachgebiet mit anspruchsvoller spezifischer Methodik, die sich unterscheidet von denen der Geistes- und Naturwissenschaft. Was hier in neun Kapiteln entwickelt, befragt und in fünf Diagrammen kunstpädagogischer Systematik verdichtet wird, die auch gut geeignet sind, um die eigene Unterrichtspraxis immer wieder zu begutachten, stellt sowohl für Anfänger als auch für Experten eine große Bereicherung und Anregung dar.

Um nur wenige Fragestellungen und Diskurse zu nennen, immer im pädagogischen Kontext:

Die drei Begründungshorizonte der Kunstpädagogik in ihrer Gewichtung – Kann man Kunst objektiv mit gut oder schlecht beurteilen? – Wo befindet sich die Grenze zur Beliebigkeit? – Darf man korrigierend eingreifen in Schülerarbeiten? – Beherrschung der gestalterischen Mittel als Notwendigkeit oder Freiraum für künstlerischen Selbstausdruck schaffen? – Welches Menschenbild und Bildungsverständnis bildet die Grundlage des Unterrichts?

Krautz trennt Kunstschaffen und -betrachten nicht, wie an Schulen oder in Fortbildungen immer wieder zu erleben, in Praxis und Theorie, sondern nimmt deren unterschiedliche Art der Praxis in den Blick, denn der Modus von »Aktivität und Rezeptivität« eignet beiden: »Ist das Aktive der Spontaneität das Gestalten, so liegt das aktive Moment der Rezeptivität in der Bereitschaft und der Spannung, Welt aufzunehmen« (zitiert nach Menze).

Vollends überzeugt hat mich sein die gesamte Darstellung durchziehender umfassender und  anspruchsvoll-inspirierender Lern- und Bildungsbegriff. Mit dem Rüstzeug dieses Buches ist man bestens für jeden Diskurs gewachsen, der die elementare und aktuell-zukünftige Bedeutung des Kunstunterrichts befragt. Insofern wünsche ich diesem Buch zahlreiche Leser, nicht zuletzt an den Hochschulen und in der Bildungspolitik, wo Weichen für die Zukunft dieses Faches gestellt werden.

Jochen Krautz: Kunstpädagogik – Eine systematische Einführung, 184 S., EUR 25,–, Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2020