Intellektuelle Bildung allein reicht nicht

Johannes Roth

Historisch zunächst im Kommunismus (als der »neue Mensch«), dann rassisch (im Nationalsozialismus). Für unsere Gegenwart denke man an Neuro-Enhancement. – Als Einzelfall steht William James Sidis (1898-1944) symptomatisch für den grenzen- und rücksichtslosen Fortschrittsoptimismus des Wissenschafts- und Industriezeitalters.

Klaus Cäsar Zehrer hat sich dieses Schicksals angenommen, intensiv recherchiert und Sidis’ Leben zu einem groß angelegten Werk verarbeitet, das über mehr als 600 Seiten geht, die dem Leser nie lang werden, da der Roman meisterhaft komponiert, sowie stilistisch und dramaturgisch großartig gelungen ist!

Zehrer beginnt die Geschichte mit der Übersiedlung von Williams Vater Boris Sidis Ende des 19. Jahrhunderts nach New York. Er war der russischen Despotie entflohen und arbeitete sich nun rasch mit bestechender Intelligenz und gewaltsam anmutender Willenskraft vom Hilfsarbeiter zum Harvard-Absolventen empor.

In seinem Sohn erkennt er die Chance, der Welt zu beweisen, dass sich jedes Kind zum Genie erziehen lässt, wenn es vom ersten Lebenstag an entsprechend intellektuell gefordert und gefördert wird: mit der »Sidis-Methode«. Deren Motto lautet: »Es gibt kein ›zu früh‹. Das ist es ja gerade, was heutzutage verkehrt läuft. Die Kinder kommen erst mit sechs in die Schule, wenn das erste Zehntel ihres Lebens schon vorbei ist.« – Williams Werdegang wird den unermesslichen Erwartungen des Vaters zunächst gerecht: Mit acht Jahren macht er seinen High-School-Abschluss, bald berichten die Zeitungen über das geniale Kind, das vor Harvard-Professoren über die 4. Dimension vorträgt. Freilich zeigt sich immer stärker Williams menschliche Unbeholfenheit, sein Unvermögen, mit all den akkumulierten Kenntnissen konstruktive menschliche Beziehungen einzugehen. Er ist zu produktiver Arbeit weder bereit, noch in der Lage; zur Ruhe kommt er einzig in der Straßenbahn, denn deren »Fahrwerk rattert[e] … seine Lieblingsmelodie, das Lied vom Wegkommen und Distanzgewinnen.« All seine Versuche, sich entsprechend seiner Möglichkeiten einzubringen, scheitern, und so findet er schließlich wirkliches Glück bei stupider und schlecht bezahlter Bürotätigkeit, umgeben von Menschen, die nicht um seine Geschichte wissen, die übrigens in den USA seinerzeit lange Aufsehen erregte.

Qualvoll, von Verletzungen und Rückschlägen gezeichnet, macht er sich auf den Weg, sich zu befreien, um von der ihm zugedachten Rolle zu einer Selbstbildung zu gelangen; der Autor lässt den Leser diesen Weg aus nächster Nähe und doch freilassend mitgehen – und zeigt eindrucksvoll, dass Rekorde und Erfolg keine im eigentlichen Sinn menschlichen Kategorien sind. Nebenbei gibt er anhand des Werdegangs seines Protagonisten ein umfassendes Zeugnis der gesellschaftlichen Wandlungen in Amerika im Lauf der ersten Hälfte des ereignisreichen 20. Jahrhunderts.

In unserer Gegenwart, die von so viel Gedankenlosigkeit im Umgang mit den menschlichen Werdekräften geprägt ist, hinterlässt dieses hellsichtige Buch einen starken Eindruck; für Pädagogen scheint mir die Lektüre unverzichtbar zu sein.

Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie, Hardcover, 656 S., EUR 25,–, Verlag Diogenes, Zürich 2017