Kindesmisshandlungen

Wolfgang Debus (Lensahn)

Was in diesem Artikel geschildert und mit wissenschaftlichen Untersuchungen abgeglichen wird, könnte man als das Wasser bezeichnen, in dem der Eisberg schwimmt, dessen Spitze den bekannten Teil der grausamen Wirklichkeit von Kindesmisshandlungen in Deutschland ausmacht. Während Kinderkrippen zu dem Bereich gehören, über dessen fördernde oder schädigende Wirkungen die Erwachsenen unterschiedlicher Meinung sein können, muss der Eisberg Kindesmisshandlung, der da mitten in unserer Wohlstandsgesellschaft schwimmt, als Krebsgeschwür übelster Art bezeichnet werden. Und diese Krebsart ist vererbbar, wird in den wenigsten Fällen erkannt und systembedingt äußerst mangelhaft therapiert.

Es wird nicht leicht, beim Lesen der Berichte und der allzu berechtigt erscheinenden Vorwürfe zur Verhinderung der Aufklärung und Behandlung der Fälle durch Nachbarn, Familienmitglieder, Sozialbehörden, Gerichte und private Hilfsorganisationen die Fassung zu wahren. Was die beiden Autoren, beides Fachärzte und Rechtsmediziner, hier aus ihrer Arbeit berichten, erzeugt beim Leser abwechselnd Abscheu über die Taten, Wut über die Unfähigkeit der Verantwortlichen und tiefe Bestürzung über die eigene Unwissenheit und Ohnmacht. Es sollen hier keine Zahlen wiederholt werden, die keinem der traurigen Kinderschicksale helfen.

Es geht in dieser Studie nicht in erster Linie um seelische Misshandlungen, Fahrlässigkeit, sexuellen Missbrauch, unwürdige, allgemein ungesunde und unhygienische Wohnverhältnisse, schlechte oder mangelhafte Ernährung, unangemessenen Umgang, »normale« körperliche Bestrafung, Verleitung zu Straftaten, Mobbing in Krippen, Kindergarten und Schulen usw. Das alles können Begleiterscheinungen sein, sind es oftmals auch. Es geht hier einzig und allein um bewusst zugefügte schwere körperliche Misshandlungen, Schäden, die zu Behinderungen und mindestens drei Mal jede Woche bei einem Kind in Deutschland zum Tod führen. Mitten unter uns!

Michael Tsokos, Saskia Guddat: Deutschland misshandelt seine Kinder, geb., 255 S., EUR 19,99, Droemer/Knaur-Verlag, München 2014