Kollaps der Systeme

Dirk Wegner

Um diese Phänomene zu verstehen, kann das Buch von Bardi einen wertvollen Beitrag leisten. Bardi ist Chemie-Professor in Florenz und Berichterstatter an den »Club of Rome«. Er interessiert sich schon seit vielen Jahren für die Strukturen und Entwicklungsgesetze komplexer Systeme. Eine ihrer Eigenschaften ist der rasch und beschleunigt verlaufende Zerfall gegenüber der langen, stetigen und stabilen Entwicklung eines Systems. Bardi wählte die Bezeichnung »Seneca-Effekt« dafür, weil bereits der Stoiker Seneca diese Erkenntnis formulierte. Außerdem erlitt der römische Philosoph einen solchen Kollaps sowohl biographisch (in Form der erzwungenen Selbsttötung) als auch politisch-geschichtlich in Gestalt des Niedergangs des römischen Reiches.

Bardi gelingt es, in scheinbar disparatesten Erscheinungen verbindende Ursachenmuster zu finden. Um nur einige Phänomene zu nennen: die Fensterform von Flugzeugen, das Platzen von Ballons, Lawinen (ob aus Schnee oder aus Geld bestehend), Hungersnöte. Er schafft dies, indem er die netzartige Struktur von Systemen, die notwendigen Eigenschaften sowie die Parameter, die das Funktionieren gewährleisten, herausarbeitet und an Bekanntem exemplifiziert. Dabei ergeben sich nicht selten überraschende Einsichten: Nach einem geschichtlichen Abriss der Entwicklung des Geldes, arbeitet der Autor beispielsweise heraus, dass die Verteilung des Vermögens in einer Bevölkerung sich verhält wie bestimmte Statistiken der Thermodynamik und sich nach analogen Regeln spieltheoretisch ableiten lässt. Schließlich betrachtet er ausführlich das Ökosystem der Erde und schält Bedingungen heraus, die den längst begonnenen Kollaps glätten und verlangsamen können.

Das Buch ist in Kapitel gegliedert, die überwiegend unabhängig voneinander gelesen werden können. Das intellektuelle Anforderungsniveau ist unterschiedlich; manche Kapitel sind allgemeinverständlich; andere erschließen sich nur dem, für den beispielsweise die Begriffe Reziprozität und doppeltlogarithmische Darstellung Inhalt haben. Bardis Denken ist naturwissenschaftlich geprägt, er hält jedoch eine wohltuende Distanz zu den Forschungsergebnissen, indem er die Offenheit der Zukunft betont, die gerade im Hinblick auf komplexe Systeme angebracht ist. Auch dramatisiert er nicht, obwohl gerade die Entwicklung des ökologischen Systems dazu verführen könnte. Vielmehr formuliert er selbst Ungeheuerliches in sachlicher, lakonischer Diktion, was durchaus witzig wirken kann, weil es gewitzt ist.

Ugo Bardi: Der Seneca-Effekt – Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können, geb., 320 S., EUR 25,–, oekom verlag, München 2017