Kompass für Kunstreisende

Meike Bischoff

Kunst ist gut aufgehoben bei jenen, denen sie Fragen aufgibt und die das Fragen nicht aufgeben. Generationen von Schülern, auch Studenten, hat Malte Schuchhardt angeregt, sich beim Betrachten von Kunstwerken als Fragende zu erleben, um das »Enträtselnwollen« (Joseph Beuys) in ihnen wachzurufen. Das Schwerverständliche in der Kunst ist ja das Schwerverständliche des Menschen. Insofern ist das Betrachten von Kunst auch immer eine Selbstbefragung.

Aus diesem langen Fragen ist nun kein dickes, schwerwiegendes Werk hervorgegangen, eher könnte man es anmutig nennen. Es ist ein schönes Buch! Schlägt man es auf, dann bestechen, Seite um Seite, die hervorragenden Abbildungen der ausgewählten malerischen wie plastischen Werke. Die großzügige Gestaltung lädt den Betrachter zum Verweilen ein, denn Abbildung und Beschreibung sind jeweils nicht getrennt. So wird der Betrachter gleich gefangen, wird ein Reisender zu Werken der Kunst von der Antike bis in unsere Zeit. Für diese Reise gibt Schuchhardt dem Reisenden gleichsam einen Kompass in die Hand, dessen Nadel ihn stark ausschlagend oder auch fein vibrierend bis in die moderne Kunst führt.

Die beiden Pole des Kompasses sind im Titel genannt, sie erscheinen auf dem Buchdeckel als Bild und da fängt das Fragen bereits an. Das Bild Apollons ist klar konturiert, der Blick dieses Gottes geht in hohe, ungewisse Weite, die Mosaikdarstellung macht das Bild des Dionysos diffuser, dessen Blick aber ist gerichtet. Was haben diese Gottheiten mit uns zu tun? Hingeführt zu den Werken der bildenden Kunst wird der Reisende über die Betrachtung von Sprachkunstwerken und das Buch schließt auch mit einer Gegenüberstellung von zwei dramatischen Werken: Goethes Iphigenie und Kleists Penthesilea. Der Dichtung ist ein wesentlicher Teil gewidmet. Das ist bedeutsam über die betrachteten Werke hinaus, denn nur die Sprache kann die Fragen vermitteln, vor die wir uns durch die Bilder – der Raum- wie der Zeitkunst – gestellt sehen. In diesem Buch geht es nicht um das Nachdenken über das System Kunst. Es geht um entdeckendes Anschauen, um anschauliches Denken. Bedenkt man, wie häufig in der letzten Zeit Schriftsteller gebeten werden, über Kunstwerke zu schreiben, dann scheint eine Sehnsucht nach diesem Denkraum zu bestehen.

In diesem Sinne ist es nicht ein Buch für Spezialisten, so viele Anregungen es auch für den Kunst- und Ästhetikunterricht gibt, es ist ein bildendes Buch. Jeder wird es mit Gewinn in die Hand nehmen.

Malte Schuchhardt: Kunst und Dichtung im Spannungsfeld von Apollo und Dionysos. 136 S., geb. 28,–. Edition Waldorf, Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2010