Kritik am ADHS-Wahn in erweiterter Auflage

Henning Köhler

In diesem Kontext wirft Wenke grundlegende philosophische und erkenntnistheoretische Fragen auf, was weit hergeholt erscheinen mag, doch wenn man verstehen will, worum sich der Streit um das AD(H)S-Konstrukt im Kern dreht, führt dies unweigerlich zu solchen Fragen.

Als Leitsymptome des so genannten AD(H)S gelten: eine geringe Aufmerksamkeitsspanne, Hyperaktivität, überdurchschnittliche Impulsivität. Hervorgehoben wird auch, dass sich viele der betroffenen Kinder weigern, Grenzen und Regeln zu akzeptieren. Die auf den diagnostischen Fragebögen anzukreuzenden Sekundärsymptome (z.B. leichte Ablenkbarkeit, Herumrutschen auf dem Stuhl, Unzuverlässigkeit) sind Legion. Großenteils handelt es sich hierbei um »bei Kindern völlig übliche Verhaltensweisen, (…) deren bloße, auch noch subjektiv eingeschätzte Häufung (…) dann zu einer ›harten‹ Diagnose (wird).« (Wenke) Man unterscheidet drei bis vier AD(H)S-Subtypen, darunter auch eine Variante ohne Hyperaktivität und Impulsivität, die überwiegend bei Mädchen vorkommen soll. Sie ist angeblich schwer zu erkennen, weil bei den Betroffenen bis ins Jugendalter alles ganz unauffällig, ja mustergültig verläuft. Man sieht schon: Die Kriterien sind so ausufernd, so schwammig, dass unweigerlich diagnostische Willkür waltet. »AD(H)S liegt im Auge des Betrachters«, schrieb Dieter Mattner einmal.

Die Ursache ist angeblich eine genetisch bedingte Hirnstoffwechselstörung. Entgegen anderslautenden Gerüchten steht dafür immer noch der Beweis aus. Es handelt sich um eine Arbeitshypothese. Ob sie plausibel erscheint oder nicht, hängt davon ab, welches Wissenschaftsverständnis, welche anthropologische Konzeption man zugrunde legt. Auf Studien können sich Befürworter wie Skeptiker stützen. Der Wettbewerb ist allerdings unfair. Großstudien zur Stützung des AD(H)S-Konstrukts werden meist von Pharma-Konzernen gesponsert. Die wissenschaftliche Opposition muss kleinere Brötchen backen. Darin liegt aber auch eine positive Herausforderung: Quantität (Datenberge) durch Qualität (gründliches Denken) zu ersetzen. Wenke macht’s vor. (Im Übrigen ist das Vertrauen in empirische – namentlich medizinische – Studien seit geraumer Zeit schwer erschüttert.)

Wenke greift weit aus. Seine Erörterungen über Neuromythen, Willensfreiheit, Wahrnehmung und Bewusstsein, Idealismus und Materialismus, Psyche und Soma, Bewegung, Leib und Identität u.a. erfordern aktives Mitdenken. Wer sich dem unterzieht, wird kaum umhin können, festzustellen, dass die AD(H)S-Hypothese auf einem überholten Maschinenmodell vom Menschen beruht. »Man sollte jeder Behauptung über menschliches Tun und Erleben, die irgendwie nach ›Gehirnmechanik‹ oder ›Vererbungswahn‹ (Alfred Adler) aussieht, in höchstem Maße skeptisch begegnen«, warnt Wenke. Er wendet sich nicht nur gegen den physiologischen Reduktionismus, sondern grundsätzlich gegen »die Rückwärtserklärung des Subjekts aus ihm vorausgehend gedachten ›Elementen‹«. Denn »phänomenologisch gilt unbedingt: Das individuelle Bewusstsein ist Quelle und Entspringen der Welt. (…) Primär und allem voran ist das erfahrende Individuum selbst.« Solche Sätze sind pointierte Kampfansagen gegen die neunaturalistische Großoffensive zur Liquidation des Individuums. Wenkes ganzes Buch ist eine solche Kampfansage. Passagenweise erinnert es mich an den 2015 erschienenen, vortrefflichen Essay Ich ist nicht Gehirn des in Bonn lehrenden Philosophen Markus Gabriel.

Bezug nehmend auf Alfred Adler, Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty (seine wichtigsten Gewährsleute) und andere eigenwillige Denker der Vergangenheit und Gegenwart, skizziert Wenke ein integrales (»holistisches«) Menschenbild. Er zeigt die Unzulänglichkeiten des Biologismus, des Empirismus, des Behaviourismus, erliegt jedoch nie der Gefahr, in esoterische Spekulationen abzuirren. Sein Anliegen ist es, die Psychologie davor zu bewahren, dass sie unter dem Diktat naturwissenschaftlicher Methodenzwänge ihre Existenzberechtigung als eigenständiges Forschungsfeld verliert. Deshalb entwickelt er Grundbegriffe einer »Meta-Psychologie«, die sich aus den Quellen der klassischen Tiefenpsychologie, der humanistischen Psychologie, der Phänomenologie und des Existenzialismus speist. Auch die frühe indische Philosophie und einige Autoren mit anthroposophischem Hintergrund finden Berücksichtigung.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Wenke gerät nirgends mit der Naturwissenschaft als solcher in Konflikt. Er wendet sich aber gegen den Absturz der Naturwissenschaft in ein Denken, dessen Stoßrichtung es ist, die prinzipielle Unterscheidung zwischen Menschen und Sachen aufzuheben. Wenn etwa in der Psychiatrie »ein Du zu einem Es gemacht wird, ein fühlendes Mitwesen zu einem biologischen Funktionsmodell«, ist für Wenke die Grenze des Zumutbaren erreicht. Dazu schrieb Maurice Merleau-Ponty: »Existiert der Kranke nicht mehr als Bewusstsein, so muss er als bloßes Ding existieren. (…) Wird einmal der Leib als Sitz von Vorgängen dritter Person angesetzt, so bleibt im Verhalten nichts mehr dem Bewusstsein zuzuschreiben möglich.« (Zitiert nach Wenke.)

Ausführlich befasst sich Wenke mit der Frage, was eigentlich »Diagnostik« bedeutet. Er kritisiert die gängige Praxis der mängeldiagnostischen Etikettierung abweichenden Verhaltens. Natürlich kommt hier auch Michel Foucault zu Wort. Was immer man von dem streitbaren Philosophen halten mag – er machte wie kein anderer deutlich, dass die Psychiatrie in ihrer bisherigen Geschichte weniger eine Heilkunst als ein Instrument der sozialen Kontrolle war (und weiterhin ist). Wenke plädiert für eine »verstehende« und »dialogische« Diagnostik, die es gar nicht darauf absieht, Defizite zu markieren. »Verstehen ist (…) das offene Ergebnis eines intensiven Kommunikationsprozesses, in dem für beide Partner etwas ungeplant Neues entsteht.« Keine standardisierte Diagnostik kann diesen Prozess ersetzen. Es ist ein Prozess der Vertrauensbildung. Wo er stattfindet, ist die strenge Unterscheidung zwischen Diagnostik und Therapie aufgehoben. Im Verstehen selbst liegt schon eine heilende (tröstende, stärkende, ermutigende) Kraft. »Wenn wir aufhören, Menschen zu kategorisieren, wird eine offene Mannigfaltigkeit erkennbar« (Wenke).

Wenkes Kritik am »ADHS-Wahn« und der daraus resultierenden Massenverabreichung von Psychostimulanzien an unruhige oder verträumte Kinder lässt an Gründlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die Verfechter der akademischen Lehrmeinung stünden vor einer kaum lösbaren Aufgabe, wenn sie gezwungen wären, auf demselben Niveau Gegenrede zu führen. Aber Bücher wie das von Matthias Wenke bekämpft man am besten durch Totschweigen. Oder durch polemische Anwürfe, die am Kern der Sache vorbeigehen.

Am meisten berührt mich, mit welchem Respekt Wenke über beunruhigte, verängstigte, verstörte, trostbedürftige Menschen spricht. Der Fehlerfahndungsblick ist ihm völlig fremd, die professionell sich gebende Arroganz des Seelenmechanikers erst recht. »Immer bleibt ein Geheimnis, dessen bedingungslose Achtung uns bescheiden und ebenbürtig macht.« Ich wünschte jedem Kind, das es schwer hat, herunterzuwachsen in diese kindheitsferne Welt, einen Therapeuten, der wie Mathias Wenke denkt.

Ein interessantes Kapitel über Autismus (die zweite inflationäre Diagnose unserer Tage) ist eingestreut. Im Anhang finden sich zwei öffentliche Stellungnahmen der Konferenz AD(H)S, eines Zusammenschluss kritischer Wissenschaftler, zu dem auch Matthias Wenke gehört.

Matthias Wenke, »ADHS«: Diagnose statt Verständnis? Wie eine Krankheit gemacht wird. Eine phänomenologische und individualpsychologische Sicht. 2. erweiterte und überarbeitete Auflage 2018. Brandes & Apsel Verlag Frankfurt a.M.