Ausgabe 03/24

Kunst, die verstört oder ratlos macht

Gabriele Hiller

Gut zwei Drittel des Bandes sind Francis Bacon gewidmet, auf dessen verstörendes, «hässliches» Werk Bockemühl zuerst anhand eines Zeitungsfotos stieß, das ihm keine Ruhe mehr ließ. Ob es gerechtfertigt oder angemessen ist, Cy Twombly als Kontrast und wesentlich kürzer auf sieben Text- und 15 Abbildungsseiten zu betrachten, mag bezweifelt werden. Ein leises Unbehagen bleibt, auch wenn Bockemühl abschließend überzeugende neue Kategorien des Schönen für beide Künstler formuliert.

In aussagekräftiger Größe und Bandbreite der Bildauswahl, vor allem der für Bacon so zentralen Serien und Tryptichen entwickelt Bockemühl einen Zugang. Motiv und Malweise charakterisiert er als beunruhigend, gewaltsam und permanent von Auslöschung bedroht, zu Orientierungsschwankungen beim Betrachter führend, ja als eine «Höllenfahrt». Durch das künstlerische Mittel des «expressiven Distanzabbaus» «erleidet» der Betrachter das Bild, das bloße Anschauen wirke wie ein «Tabubruch». Dies werde verstärkt durch Bacons Hauptmotiv, den menschlichen Körper und das Porträt, das seit der Renaissance als Inbegriff des Allerhöchsten gelte, als Erscheinung geistdurchdrungener Natur.

Der Bildraum gerät zum Assoziationsraum für die Betrachtenden: Aus verwischten Malgesten bildet sich allmählich ein verdrehter, sich windender, oft gequält erscheinender menschlicher Körper, der seiner Alltags-«Schutzschilder» beraubt ist und versucht, sich «zwischen Raum und Nicht-Raum» zu halten.

Bockemühls Wortfindungen für diese unheimliche, mit elementarer Wucht erlebte Bilderfahrung zeugen von der quälend intensiven Beschäftigung mit Bacon, die sich dadurch nahezu unmittelbar auch dem Leser mitteilt.

Dem gegenüber steht das Werk von Cy Twombly, dessen «unperfekte Flüchtigkeit ... etwas Unverfügbares zur Sprache» bringe, das oft an die vielen zeitlichen Schichten einer bekritzelten antiken Hauswand erinnere: «eine müde werdende Linie» an den Rändern des Sinnlichen. Nahezu keine Illustrierung von ETWAS und zugleich eine Erwartungsstimmung weckend, dass da ETWAS zutage treten könne. Twombly formuliert dies so: «Ich zeige Dinge im Fluss» , ein Werden oder auch Verschwinden, etwas unerhört Subtiles, über die Grenze des Physischen hinaus in Zeitgesten hinein. Bockemühl nennt dies das Erlebnis eines plastisch-lebendigen Zustands «zwischen Gestalt und Fluss» mit Übergängen in der Bildgestalt.

Zum Abschluss findet er prägnante Begriffe für die neue Schönheit beider Kunsterfahrungen: Während Bacon «Bereichserfahrungen von Schutzschild zu Schutzschild» zeige, gestalte Twombly «Prozessüberschreitungen» durch «Übergangserfahrungen im Lebendigen».

Eine großartige Seh-und Lese-Reise!

Michael Bockemühl: Kunst Sehen, Band 13: Francis Bacon, Cy Twombly. 100 Seiten, Info3-Verlag, 2022, 16,80 Euro.

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